Wenn man aktuelle Lehrmittel – vor allem Sprachbücher – aus den mittel- und nordeuropäischen Einwanderungsländern ansieht, fällt sofort etwas auf: Im Gegensatz zu früheren Schulbüchern enthalten sie eine große Anzahl von Hinweisen, Tipps und Techniken zum Lernen. Diese Hinweise wenden sich direkt an die Schüler/innen und unterstützen sie z. B. in den folgenden Fragen:
- Wie löst man Verständnisprobleme beim Lesen?
- Wie orientiert man sich in Nachschlagewerken und im Internet?
- Wie erkennt man Wichtiges in einem Lesetext?
- Wie plant man den Aufbau eines Textes oder Vortrags?
- Wie gibt man in einem Gespräch gute Rückmeldungen?
- Wie merkt man, zu welcher Wortart ein Wort gehört?
Hinweise, Techniken oder Strategien in dieser Art wurden in früheren Schulbüchern kaum vermittelt. Im Zentrum stand dort die Vermittlung von Sachwissen und – z. B. in der Grammatik – das Training dieses Sachwissens durch reproduktive Übungen. In vielen Ländern und Kulturen ist dies noch heute mehr oder weniger so. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass sich in diesen Ländern und Sprachen kaum Publikationen zu Lerntechnik und Lernstrategien finden, während solche in den mittel- und nordeuropäischen Buchhandlungen ganze Regale füllen.
Die Ursache für diese Unterschiede sind die Entwicklungen und Schwerpunkte der neueren Pädagogik, Didaktik und Methodik in den Einwanderungsländern. Ausführlich sind diese in Teil II des Hand- und Arbeitsbuchs «Grundlagen und Hintergründe» beschrieben; vgl. dort vor allem die Kapitel 3–6. Als Stichworte nennen wir hier bloß die stärkere Gewichtung von selbstständigem gegenüber angeleitetem Lernen, das neue Verständnis der Rolle der Lehrperson als Lerncoach, die Orientierung des Unterrichts nicht primär am Stoffprogramm, sondern an den Lernenden und am Auf- und Ausbau von deren Kompetenzen etc. Dazu kommt die Erkenntnis, dass Faktenwissen in unserer schnelllebigen und hoch mediatisierten Zeit rasch veraltet, wohingegen es immer wichtiger wird, über Techniken und Strategien der Informationsbeschaffung und der Hilfe zur Selbsthilfe zu verfügen. (Beispiel: Wer in der Naturkunde oder Geschichte nur eine Reihe von Fakten gelernt hat, ist weniger kompetent als jemand, der weiß, wie man sich im Internet oder in Nachschlagewerken diese und andere Informationen beschafft und wie man sie z. B. zu einem guten Vortrag aufbereitet.)
Als Konsequenz ergibt sich, dass in der jüngeren mittel- und nordeuropäischen Unterrichtstradition die Vermittlung von strategischem Wissen (Strategien zum Umgang mit Informationen, Lern- und Problemlösestrategien) gegenüber der Vermittlung von reinem Faktenwissen einen deutlich breiteren Raum einnimmt. Dies spiegelt sich im Unterricht selbst wie auch in den Lehrmitteln wider – und auch darin, dass wir dem Thema «Lernstrategien und -techniken» ein eigenes Heft in der Reihe «Materialien für den herkunftssprachlichen Unterricht» widmen.