Lesen und Leseförderung im HSU unterscheiden sich, wie oben ausgeführt, primär hinsichtlich der Sprache der Texte und ihrer kulturellen Herkunft vom Leseunterricht in der Regelklasse. Die Arbeits- und Trainingsbereiche hingegen sind weitgehend identisch, und desgleichen die Ziele der literalen Sozialisation und Förderung in der Erst- und Zweitsprache. Die folgenden Abschnitte a) und b) sind denn auch weniger als HSU-spezifisch gedacht, vielmehr akzentuieren sie abschließend zwei generell (und damit auch für den HSU) wichtige Punkte.
a) Entlastung der Texte vor dem Lesen
Dem Wortschatz kommt beim Lesen große Bedeutung zu. Häufig verstehen Leser/innen einen Text nicht, weil er zu viele Wörter enthält, die sie nicht kennen. In Texten, die in der Standardvarietät der Erstsprache geschrieben sind, kann dies zu ganz besonderen Problemen führen, weil viele Kinder und Jugendliche die Erstsprache zu Hause ausschließlich im Dialekt praktizieren.
Aus diesem Grund ist es im HSU oft wichtig, Texte vorgängig sprachlich zu entlasten, um den Zugang zu ihnen zu erleichtern (vgl. hierzu auch Sträuli et al., 2005, S. 58 ff.). Ein bewährtes Verfahren hierzu ist, vor der Lektüre zusammen mit den Schüler/innen eine Liste der Schlüsselwörter und von eventuell problematischen Wörtern und Wendungen anzusehen und die Schwierigkeiten zu klären («Schaut mal, wir lesen jetzt dann einen Text, in dem die Wörter ‹Gemäuer›, ‹befand sich›, ‹gruslig› und ‹Ritterrüstung› vorkommen. Die wollen wir zuerst klären!»). Dadurch können sich die Schüler/innen nicht nur auf den Inhalt des Textes einstimmen, vielmehr können sie auch ihr Vorwissen aktivieren, Hypothesen bilden und sie verstehen bereits einen großen Teil der im standardsprachlichen Text vorkommenden Formen und Begriffe. Das Verstehen erleichtern können auch Bilder, die das Geschehen illustrieren, Details zeigen, Stimmungen wiedergeben oder sachliche Inhalte bildnerisch darstellen und erklären.
b) Man muss nicht immer jedes Wort verstehen
Oft konzentrieren sich Leserinnen und Leser (auch Lehrer/innen!) zu stark auf das Nichtverstandene, anstatt sich zunächst darauf zu konzentrieren, was alles verstanden wird. Diese defizitorientierte Sicht kann entmutigend wirken.
Es geht aber auch anders: zum Beispiel, wenn die Schüler/innen den Auftrag erhalten, beim Lesen einmal alles anzustreichen, was sie verstanden haben. Durch das Markieren der Stellen, die auf Anhieb verstanden wurden, wird ihnen bewusst, dass es in der Regel nur Teile eines Satzes oder einzelne Wörter sind, die sie beim ersten Lesen nicht verstehen. Damit erhöht sich in den meisten Fällen auch die Motivation zum Weiterlesen. Aus dem Kontext des Verstandenen lassen sich die übrigen Verstehensprobleme zudem sehr oft lösen.
Bei manchen Texten müssen die Leser/innen auch gar nicht alle Wörter verstehen; je nach Ziel des Unterrichts und Art des Textes reicht ein globales Verstehen (siehe oben) durchaus. Hilfreich kann es sein, wenn Schlüsselbegriffe und zentrale Stellen im Text vorher markiert werden. So wissen die Lesenden, worauf sie achten müssen und welche Stellen besonders wichtig sind. In Abhängigkeit von den Zielen, die man mit dem betreffenden Text verbindet (ob beispielsweise eine detaillierte Auseinandersetzung mit Inhalt und Aussage stattfinden soll), muss anschließend vertiefte Wortschatzarbeit erfolgen. Dass Wortschatzarbeit im Kontext von realen Texten besonders authentisch und wirksam ist, liegt auf der Hand.
c) Kooperation mit dem regulären Unterricht
Wenn der HSU und der reguläre Unterricht zusammenarbeiten, erweitert diese Kooperation den Horizont und vertieft die Nachhaltigkeit des Gelernten. Dies gilt nicht nur für gemeinsam behandelte Inhalte (z. B. Wasser oder Landwirtschaft in den verschiedenen Ländern), sondern auch für viele Lerntechniken und -strategien. Da diese fast immer übersprachlich sind bzw. in verschiedenen Sprachen genutzt werden können, ist eine Kooperation zwischen HSU- und Regelklassenlehrpersonen in diesem Bereich besonders wertvoll. Ebenso trifft dies für den wichtigen Bereich der literarisch-kulturellen Bildung zu, in dem sich HSU und Regelunterricht optimal ergänzen und die Freude am Lesen gemeinsam fördern können.
Wo institutionelle Kontakte zwischen HSU und Regelunterricht nicht (wie z. B. in Schweden) automatisch gegeben sind, liegt es manchmal vor allem an den HSU-Lehrer/innen, den Kontakt aufzunehmen und sich über Möglichkeiten der Zusammenarbeit im Bereich Lesen zu informieren. Einige Ideen hierzu (vgl. auch viele Vorschläge im zweiten Teil dieses Hefts und bei Sträuli et al., 2005, S. 116 ff.):
- Gedichte in verschiedenen Sprachen lesen (und/oder selbst schreiben); vortragen lernen, Aufnahme einer Gedicht-CD, Gestaltung eines mehrsprachigen Büchleins; Übersetzung in die Schulsprache. Evtl. Elternveranstaltung mit mehrsprachigen Rezitationen.
- Gemeinsame Lektüre eines zwei- oder mehrsprachig erschienenen Buchs oder Bilderbuchs.
- Gestaltung einer Ausstellung mit Büchern in verschiedenen Sprachen; jedes Buch wird auf einer Karte kurz beschrieben.
- Nutzung von elektronischen und anderen Quellen aus verschiedenen Sprachen zu einem gemeinsamen Sachthema (z. B. Römerzeit in Deutschland und in der Türkei).
- Gemeinsame Einführung und Nutzung bestimmter Lesestrategien oder -techniken (siehe Teil II dieses Hefts und Heft 5: Lerntechniken und -strategien).
- Gemeinsame Arbeit am Aufbau einer mehrsprachigen Schulhausbibliothek.
- Kooperationen (Workshops etc.) im Rahmen einer Projektwoche «Leselust in verschiedenen Sprachen» oder im Rahmen einer Lesenacht.
Manchmal ergeben sich aus Gründen der Überlastung keine Möglichkeiten der Kooperation. In diesem Falle empfehlen wir als Minimallösung, dass sich die HSU-Lehrer/innen die Sprachbücher des regulären Unterrichts bringen lassen und dort schauen, was sich zu den Bereichen «Leseförderung», «Lesetraining», «Lesestrategien» und «Literarische Bildung» findet. Sicher sind Ideen dabei, die gut auch im HSU aufgegriffen werden können, und sicher können hier auch die Schüler/innen mit Erklärungen, Anregungen und Erfahrungen helfen.
d) Wo lassen sich Texte in der Herkunftssprache finden?
- Textsammlungen für den unterrichtlichen Gebrauch
Dass die HSU-Lehrer/innen eigene Textsammlungen für ihren Unterricht haben, versteht sich. Dabei kann es sich um literarische Werke, um Gedicht- und Märchensammlungen, um Bilderbücher oder um Schulbücher in der Herkunftssprache handeln, aber auch um Sammlungen von Artikeln, Geschichten etc. zu bestimmten Sachthemen. Immer wichtiger werden auch Listen mit Links zu geeigneten Websites.
Textsammlungen können und sollen aber auch mit den Schüler/innen des HSU angelegt werden. Eine einfache Lösung ist sicherlich, die Schüler/innen und ihre Eltern und Angehörigen zu bitten, Lesestoffe in ihrer Sprache mitzubringen und dem HSU zur Verfügung zu stellen. Dabei kann es sich um Bilderbücher, Bücher, Illustrierte, (Kinder-)Zeitschriften und Comics handeln. Selbstverständlich können und sollen auch Textrecherchen in der Herkunftssprache im Internet von und mit den Schüler/innen durchgeführt werden. Wichtig ist, dass die Lehrperson die Schüler/innen dabei unterstützt und sie auch zu einem verantwortungsvollen Umgang mit den Quellen anhält (seriöse Quellenangabe; Hilfe beim Zitieren etc.).
Wichtig: Je nach Herkunftsregion und politischem Kontext muss die Lehrperson strikt darauf achten, dass in diese Sammlungen keine Texte mit tendenziösem, nationalistischem oder sonst wie provokativem Charakter integriert werden.
- Textsammlungen zur Ausleihe
Textsammlungen für den unmittelbaren unterrichtlichen Gebrauch sind wichtig, reichen aber noch nicht aus. Im Sinne einer aktiven Förderung des Lesens in der Erstsprache müssen sie um ein Angebot von Büchern und weiteren Texten ergänzt werden, die die Schüler/innen ausleihen und zu Hause lesen können. Im besten Falle finden sie solche Titel in einer interkulturellen Bibliothek (Hinweise siehe unten) oder in der Bibliothek ihres Schulhauses, falls diese mehrsprachig konzipiert ist. Ist dies nicht der Fall, liegt der Ball bei der HSU-Lehrperson. Wenn diese über eine Sammlung von Texten verfügt und hierzu eine einfache Ausleihliste anfertigt (eine Tabelle mit Titeln und Feldern für die Namen der Ausleihenden), reicht dies bereits. Jede Woche können die Schüler/innen dann «bestellen», was sie gerne lesen möchten, und die gelesenen Titel zurückbringen. Natürlich können die Schüler/innen bei der Anlage dieser kleinen Bibliothek auch selbst mithelfen. Ein besonders guter Zeitpunkt hierfür sind die Sommerferien, die viele Kinder in ihrem Herkunftsland verbringen, von wo sie Lesestoffe mitbringen können. Vielleicht kann vor den Ferien im Rahmen einer kleinen Aktion (Basar, Elternveranstaltung etc.) sogar etwas Geld gesammelt werden, so dass jedes Kind ein kleines Budget zur Anschaffung von Büchern hat. Auch hier darf natürlich die Kontrolle der Titel hinsichtlich politischer und ideologischer Neutralität nicht fehlen.
Für die Aufbewahrung der kleinen Bibliothek, die auf diese Weise zustande kommt, lässt sich vielleicht in der Schule ein Schrank finden. Noch besser wäre natürlich, wenn die eigene Bibliothek des Schulhauses (falls es eine solche gibt) auch Bestände in den verschiedenen Herkunftssprachen der Schüler/innen umfassen würde und auch vom HSU genutzt werden könnte. Dort, wo der HSU gut ins reguläre Schulsystem integriert ist, dürfte das kein Problem darstellen. Aber auch in den anderen Fällen kann und wird sich eine entsprechende Initiative der HSU-Lehrer/innen sicher lohnen.
- Öffentliche interkulturelle Bibliotheken
Viele Bibliotheken, vor allem in größeren Orten, halten eine Auswahl an Büchern (inkl. Bilder-, Kinder- und Jugendbücher) und manchmal auch an Zeitschriften in verschiedenen Sprachen zur Ausleihe bereit.
In der Schweiz gibt es einen Verband dieser interkulturellen Bibliotheken; vgl. die Website: http://www.interbiblio.ch mit einer Übersicht über die einzelnen Standorte und die Ausleihmöglichkeiten.
Für Schweden finden sich umfassende Informationen auf der Website: http://modersmal.skolverket.se/sites/svenska/index.php/flersprakighet-i-forskolan/kop-lan
Für Deutschland vgl. die Website: http://www.bibliotheksportal.de/themen/bibliothekskunden/interkulturelle-bibliothek/materialien-in-mehreren-sprachen.html
- Buchausleihe und Informationen bei länderspezifischen Institutionen (Beispiele)
Deutschland:
Die Website des deutschen Bibliotheksverbands enthält umfassende Informationen und erlaubt auch gezielte Recherchen. Es finden sich Materialien und Informationen zu folgenden Themen: Texte für die bibliothekarische Arbeit, Multilinguales Bibliotheksglossar und Online-Wörterbücher, Nachweise fremdsprachiger Bestände in deutschen öffentlichen Bibliotheken, Linksammlungen zu Sprache und Kultur, Links zu fremdsprachigen Wikipedia-Plattformen, Links zu Medien, Zeitungen und Zeitschriften, Textvorlagen zu Maßnahmen der Sprach- und Leseförderung. Link: http://www.bibliotheksportal.de und http://www.bibliotheksportal.de/themen/bibliothekskunden/interkulturelle-bibliothek/materialien-in-mehreren-sprachen.html
Wertvolle Informationen zu mehrsprachigen Büchern, Materialien für den Unterricht und eine sehr nützliche Sammlung von Links zu anderen Institutionen bietet die Website des Goethe-Instituts: http://www.goethe.de/ges/spa/prj/sog/fms/lit/deindex.htm
Empfehlenswerte Informationen und Anregungen zum Einbezug der Eltern bietet die Website: http://www.mehrsprachigvorlesen.verband-binationaler.de
Österreich:
Viele Informationen und Suchoptionen finden sich unter dem Link: http://www.schule-mehrsprachig.at
Speziell zu mehrsprachigen Kinder- und Jugendbüchern siehe Link: http://www.schule-mehrsprachig.at/index.php?id=11
Nebst vielen Materialien gibt es auch eine mehrsprachige Kinderzeitschrift, die man auch in der Schweiz und in Deutschland bestellen kann. Das Abonnement ist gratis, es werden nur die Versandkosten verrechnet. Nützliche Informationen bietet auch die österreichische Website: http://www.wirlesen.org
Schweiz:
In der Schweiz hat die Stiftung Bibliomedia eine vielseitige Auswahl an fremd- und mehrsprachigen Büchern zusammengestellt, die natürlich auch HSU-Lehrpersonen über einen längeren Zeitraum ausleihen können. Verfügbar sind Bücher in Albanisch, Arabisch (nur Kinderbücher), Englisch, Kroatisch, Portugiesisch, Spanisch, Serbisch, Tamilisch, Türkisch. Über die Auswahl an mehrsprachigen Büchern gibt eine Liste auf der Webseite Auskunft. Je nach Schulort sind die Ausleihkosten unterschiedlich. Lehrpersonen erkundigen sich am besten bei der Schulleitung oder nehmen direkt Kontakt mit Bibliomedia auf. Bibliomedia bietet auch Unterrichtsmaterialien, Buchlisten und eine Zusammenstellung von aktuellen weiterführenden Links zum Thema Mehrsprachigkeit; vgl. im Literaturverzeichnis den Titel «Bibliomedia, QUIMS». Adresse: Bibliomedia, Rosenweg 2, 4500 Solothurn, Tel.032 624 90 20. Link: www.bibliomedia.ch
JUKIBU (Interkulturelle Bibliothek für Kinder und Jugendliche): Diese spezielle Bibliothek in Basel hat Bücher und Medien in 50 verschiedenen Sprachen im Angebot. Ein aktueller Online-Katalog hilft bei der Titelsuche. In der JUKIBU finden auch regelmäßig verschiedenste Veranstaltungen statt. Adresse: JUKIBU; Elsässerstraße 7, 4056 Basel, Tel. 061/322 63 19. Link: www.jukibu.ch
Baobab: Der Verein Baobab engagiert sich für interkulturelle Themen rund ums Lesen und publiziert auch immer wieder mehrsprachige Bücher. Link: http://www.baobabbooks.ch
Netzwerk sims: Auf dieser Plattform finden sich Listen mit Büchern in verschiedenen Sprachen, die man bestellen kann. Zudem stehen hier auch viele hilfreiche Unterrichtsmaterialien zur Sprachförderung von Schüler/innen in der Migration zum Download bereit: http://www.netzwerk-sims.ch
Bischu – Handbuch für die Zusammenarbeit von Bibliothek und Schule; herausgegeben von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich Das Handbuch bietet vielfältige wertvolle Anregungen. Es zeigt, dass und inwiefern Zusammenarbeit mehr als bloße Ausleihe ist. Link: http://www.bischu.zh.ch
Schweden:
Umfassende Informationen zu Verlagen, Bibliotheken, Ausleihmöglichkeiten etc. finden sich auf der bereits oben erwähnten Website: http://modersmal.skolverket.se/sites/svenska/index.php/flersprakighet-i-forskolan/kop-lan
Übergreifend: Bei der Stiftung europäischer Nationalbibliotheken finden sich Links zu den verschiedenen Partnern in Europa. Link: http://www.theeuropeanlibrary.org