Lesen lernt man nicht von heute auf morgen. Der Weg vom langsamen Entziffern einzelner Buchstaben bis hin zum flüssigen Lesen eines ganzen Buchs ist lang, oft steinig und mühsam. Es handelt sich um einen Prozess, bei dem die meisten Kinder und Jugendlichen begleitet und immer wieder unterstützt werden wollen. Wichtig bei diesem Prozess sind Erwachsene – Eltern und Lehrpersonen –, die Anteil an den oft ganz unterschiedlichen Leseinteressen der Schüler/innen nehmen, und wichtig sind Vorbilder, die vorlesen und mit denen sich die Lernenden über Buchinhalte austauschen können. Dies kann und soll lange vor Schuleintritt beginnen: Wenn die Eltern schon mit ihren ganz kleinen Kindern Bilderbücher anschauen und kommentieren oder ihnen Geschichten vorlesen und sich darüber unterhalten, stellt dies eine besonders wirksame Form der frühen Leseförderung dar. Glaubt man den Erfahrungsberichten erwachsener Leserinnen und Leser, so erfolgt bei Jugendlichen die wirksamste schulische Leseförderung durch eine Lehrperson, die sich selbst als Leserin, als Leser zu erkennen gibt, die sich für die Leseinteressen und Lektüren ihrer Schüler/innen interessiert, die viele verschiedene Bücher kennt und die mit den Lernenden anregende Diskussionen über das Gelesene zu initiieren und zu moderieren vermag.

Gern lesen und gut lesen – beide Aspekte sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Leseentwicklung, und sie hängen wechselseitig voneinander ab: Nur wer die Lust an Texten und an dem, was sie erzählen, schon empfunden hat, wird weitere, zunächst vielleicht mühevollere Schritte tun wollen. Und umgekehrt müssen Schülerinnen und Schüler über gewisse Fertigkeiten im Umgang mit Texten, Bildern und Inhalten verfügen, damit sie sich freudvoll und neugierig auf weitere Lektüren einlassen.

Der fördernde Leseunterricht muss verschiedene Teilbereiche im Auge behalten. Dabei lassen sich drei Bereiche unterscheiden: Leseförderung, Lesetraining und literarisch-kulturelle Bildung. Die drei Bereiche ergänzen sich, die für sie nötigen Kompetenzen können aber oft nicht alle gleichzeitig und am gleichen Text geübt werden. Dies gilt natürlich auch für den herkunftssprachlichen Unterricht und für das Lesen in der Herkunftssprache. Die einzelnen Bereiche können aber mit unterschiedlichen Texten und Aufgaben auf verschiedene Art und Weise geschult und gefördert werden. Dies wirkt sich positiv auf den Literalitätserwerb in der Erstsprache und in der Sprache des Einwanderungslandes aus. Das vorliegende Heft hält eine reiche Sammlung von Ideen und Aufgaben für alle drei Bereiche bereit.

a) Leseförderung

Ziel der Leseförderung ist es, die Schülerinnen und Schüler für das Lesen zu gewinnen. Sie sollen auf Texte und Bücher neugierig werden, sollen nach eigenem Geschmack auswählen können, sie sollen erfahren, wie vielfältig Bücher und andere Texte sind und wie spannend es sein kann, sich Inhalte lesend zu erschließen. Die Zielvorstellung wäre, dass das Lesen für die Schüler/innen zu einer selbstverständlichen und alltäglichen Tätigkeit wird – in der Schule genauso wie zu Hause, in der Erstsprache genauso wie in der Schulsprache.

Wichtig mit Blick auf dieses Ziel ist eine breite und anregende Auswahl an Texten, damit möglichst alle Schüler/innen eine Lektüre finden, die sie interessiert und in die sie sich vertiefen möchten. Zu einer vielfältigen Auswahl in diesem Sinne gehören nicht nur Bücher, sondern auch Illustrierte, Zeitungen, Comics, Foto- und Bilderbücher und natürlich die ganze Palette an elektronischen Texten – von der Website mit Informationen zu einem Sachthema bis hin zum Chat-Forum und zum E-Book.

Bei Schüler/innen, die wenig Lesemotivation mitbringen, muss die nötige Ruhe zum Lesen bisweilen deutlich eingefordert werden. Auch diese Kinder und Jugendlichen sollen still an ihrem Platz sitzen, um ihre Bücher oder Texte zu lesen, auch sollen sie Rechenschaft darüber ablegen, was und wie viel sie gelesen haben. Nur so wird auch ein gewisses Durchhalten trainiert und wird vermieden, dass sie ihre selbst gewählte Lektüre immer wieder abbrechen.

Zu einem fördernden Leseunterricht gehört auch, dass Schülerinnen und Schüler erwachsene Bezugspersonen und Gleichaltrige als Leserinnen und Leser wahrnehmen und dass sie sich gegenseitig über die Lesestoffe und Leseerfahrungen austauschen können. In altersdurchmischten Klassen oder Gruppen können zudem ältere Schüler/innen eine wichtige Rolle als Lesevorbilder spielen.

Leseförderung verfolgt vor allem die folgenden Ziele:


  • Sie soll in erster Linie das Interesse an Büchern und an anderen Medien mit Schrift und Bild wecken.

  • Sie soll den kompetenten Umgang mit dem großen Textangebot zur Gewohnheit machen und dafür auch Lernhilfen und Strategien anbieten.

  • Sie soll alle möglichen Zugänge zur Welt der Schrift öffnen und zeigen, dass Lesen eine Tätigkeit mit unmittelbar alltagspraktischer Relevanz und vielen Bezügen zur eigenen Lebenswelt sein kann (Texte zu persönlichen Interessen, verschiedene Medien zum gleichen Thema, Nutzung von Texten aus der Erst- und Zweitsprache etc.). Damit sollen und können auch neue Leser/innen gewonnen und motiviert werden.

  • Leseförderung soll schließlich dazu führen, dass Kinder und Jugendliche gern lesen, dass sie nicht nur in der Schule zu Texten und Büchern greifen, sondern dass das Lesen und der Umgang mit Texten in der Erst- und Zweitsprache ganz selbstverständlich zu ihrem Alltag gehören.

b) Lesetraining

Mit einem guten Lesetraining wird das flüssige und verstehende Lesen gezielt trainiert. Gut und flüssig lesen zu können und das Gelesene auch zu verstehen ist anspruchsvoll. Viele Kinder und Jugendliche – vor allem solche aus bildungsferneren Familien – sind damit tendenziell überfordert, wenn sie nicht gezielt unterstützt werden. Zu einem fördernden Leseunterricht gehören deshalb in allen Klassenstufen verschiedene Übungsformate. Im Fokus stehen dabei Übungen zu den Lesefertigkeiten (Basisfertigkeiten), zur Lesegeläufigkeit (Lesegenauigkeit und Routine) und zu den Lesestrategien (Hilfen, wie man schwierige Texte besser verstehen kann).

Beim Lesetraining steht also nicht primär die Leselust im Vordergrund. Vielmehr geht es hier vor allem darum, dass die Schüler/innen ihre Lesefähigkeiten gezielt trainieren und verbessern. Dies geschieht mit strukturierten Fertigkeitsübungen, durch wiederholte Leseübungen am gleichen Text und durch die Vermittlung von Strategien, die helfen können, auch anspruchsvolle Texte besser zu verstehen.

In der Lesedidaktik werden drei zentrale Trainingsfelder benannt, die selbstverständlich auch für das Lesetraining in der Erstsprache gelten:

  • 1. Lesefertigkeiten

In diesem Bereich geht es um das eher technische Lesenkönnen auf der Buchstaben-, Wort- sowie Satz- ebene. Viele Schüler/innen – vor allem jüngere – sind beim Decodieren noch zu wenig sicher. Sie haben Probleme bei der Schrifterkennung in der Herkunftssprache, bei der Worterkennung und beim Verknüpfen von Satzteilen und Sätzen. Dies gilt vor allem dann, wenn sich das Laut- und Zeichensystem der Herkunftssprache von demjenigen der Schulsprache unterscheidet (siehe hierzu auch oben). Der HSU kann hier mit einer sorgfältigen Einführung in die Schrift oder in die Sonderzeichen der eigenen Sprache, aber auch durch systematische Arbeit am Wortschatz und durch die Auseinandersetzung mit komplexeren syntaktischen Strukturen wirksame Unterstützung leisten.

  • 2. Lesegeläufigkeit

Der Trainingsbereich der Fluency (Flüssigkeit, Geläufigkeit) ist in der Schulpraxis noch kaum verankert. Zu Unrecht, ist er doch von beträchtlicher Relevanz: Wer mit Routine liest und durch einen Text verhältnismäßig schnell und fehlerfrei «durchkommt», hat auch weniger Mühe, den Inhalt zu verstehen. Der Grund liegt darin, dass sich geübte Leser/innen besser auf das Verstehen des Textes konzentrieren können, weil der eher technische Teil des Leseprozesses bei ihnen weitgehend automatisiert ist. Leser/innen mit schwacher Fluency oder Geläufigkeit müssen demgegenüber einen Teil ihrer Energie für das Decodieren und andere technische Aspekte des Leseprozesses investieren. Neue Ergebnisse aus Deutschland zeigen auch, dass viele Schüler/innen im Laufe des Geläufigkeitstrainings ein neues oder stabileres Selbstkonzept in Bezug auf ihre Tätigkeit als Leser/in aufbauen konnten. Sie fühlten sich nach Abschluss dieser Trainingsphase kompetenter und bezeichneten sich selbst nun häufiger als gute und motivierte Leserinnen oder Leser. Dies wiederum führt zu einer höheren Lesemotivation. Im Grunde ist es eine Binsenweisheit: Wer gut liest, liest gern. Wer gern liest, liest viel. Wer viel liest, liest gut.

  • 3. Lesestrategien

Gute, geübte Leserinnen und Leser wissen, was sie tun können, um einen Text möglichst schnell und richtig zu verstehen. Sie wenden (oft unbewusst) verschiedene Strategien zur Texterschließung an und beginnen nicht einfach auf gut Glück zu lesen. Sie machen sich z. B. vor der Lektüre eine Art Leseplan und lesen den Text je nach diesem Plan und ihren Zielen auf unterschiedliche Art und Weise. In der Fachdidaktik unterscheidet man zwischen drei Arten des Lesens und Leseverstehens, die in der Schule – natürlich auch im HSU – bewusst gemacht und anhand passender Texte erprobt werden sollten:


  • Das gezielte Leseverstehen: Hier geht es um die gezielte Suche nach einer bestimmten Information, z. B. im Wörter- oder Telefonbuch, im Fahrplan oder in einem Sachtext.

  • Das globale Leseverstehen: Das Ziel ist hier, das Wesentliche eines Textes zu erfassen, ohne unbedingt jedes Detail zu speichern. Diese Leseweise ist besonders häufig z. B. in Zusammenhang mit literarischen Texten oder mit Zeitungsartikeln.

  • Das detaillierte Leseverstehen: Es ist dann aktuell, wenn man bei einem Text möglichst jedes Detail verstehen soll (z. B. bei einem Rezept oder einer Anleitung oder vor einer Prüfung).

Geübte Leser/innen überwachen den Verstehensprozess während der Lektüre laufend und wissen sich zu helfen, wenn Verstehensschwierigkeiten auftauchen. Das Kennen und selbstständige Nutzen von Lesestrategien ist ein wesentlicher Aspekt von Lesekompetenz. Die eigentliche Vermittlung dieser Strategien geschieht am besten anhand des gemeinsamen Erarbeitens von Texten im Unterricht, z. B. im Rahmen eines entwickelnden Unterrichtsgesprächs. Im Anschluss an die sorgfältige Einführung müssen die Strategien selbstverständlich an verschiedenen Texten immer wieder erprobt werden, bis sie von den Schüler/innen verinnerlicht sind. Je nach Art und Inhalt eines Textes muss dabei anders vorgegangen werden und kommen andere Strategien zum Zug (z. B. solche zum Verstehen und Beurteilen von Sachtexten, zur Zusammenfassung von Erzählungen, zum Verständnis von Grafiken etc.). Materialien und Hinweise hierfür bietet auch das Heft «Didaktische Anregungen 5: Vermittlung von Lernstrategien und Lerntechniken», wo sich in den Kapiteln 2 und 3 weitere Strategien zum Umgang mit Hilfsmitteln (Wörterbücher, Nachschlagewerke etc.) und zum Lesen finden.

Für die drei Bereiche «Lesefertigkeiten», «Lesegeläufigkeit» und «Lesestrategien» werden im vorliegenden Heft verschiedenste Übungsformate und Beispiele präsentiert, die natürlich an die Voraussetzungen der jeweiligen Klasse oder Gruppe adaptiert werden müssen. Schwächere Leser/innen sollen möglichst viele Übungen im Bereich der Lesefertigkeiten bearbeiten. Stärkere Leser/innen können die Fertigkeitsübungen auch weglassen und diese Zeit für ihre persönliche Lektüre nutzen. Besonders sinnvoll zum Üben der Lesegeläufigkeit und der Lesestrategien ist es, wenn Texte aus dem Unterrichtsalltag verwendet werden.

c) Literarisch-kulturelle Bildung

Literarisch-kulturelle Bildung zielt darauf ab, dass die Schüler/innen Erfahrungen mit gestalteten (literarischen) Texten machen können. Das betrifft z. B. den lustvollen und spielerischen Umgang mit Sprache in Gedichten und Sprachspielen oder das Genießen von literarisch gestalteten Texten. Im HSU stehen dabei selbstverständlich Texte aus der Herkunftssprache und die altersgerechte Vermittlung eines Basiswissens zur eigenen Literaturgeschichte im Vordergrund. Wenn in den oberen Klassen Bezüge zur Literatur des Einwanderungslandes oder zur Weltliteratur hergestellt werden können, erweitert dies den literarischen Horizont.

Primäres Ziel für die Schüler/innen ist das Entwickeln einer ästhetischen Sensibilität, die für weitere Erfahrungen mit poetisch gestalteten Texten hilfreich ist. Die Kultur eines Landes und Volkes spiegelt sich über weite Strecken in Texten und Büchern. Dies gilt für überlieferte Märchen und Legenden genauso wie für Gedichte und Erzählungen oder zeitgenössische Romane. Alle diese Gattungen erfüllen in Bezug auf die Sprache bestimmte inhaltliche und formale Kriterien, die sich von jenen für Alltags- oder Sachtexte deutlich unterscheiden. Diese Unterschiede können mit den älteren Schüler/innen natürlich thematisiert werden. In erster Linie geht es aber nicht darum, die literarischen Texte zu analysieren, sondern vielmehr darum, sie überhaupt kennenzulernen, sie genießen zu können und nach und nach mit ihnen vertraut zu werden.

Reime, Verse und Sprachrhythmen, aber auch Vorlesesituationen ermöglichen schon bei ganz kleinen Kindern intensive, sinnlich-ästhetische Hör-Erfahrungen. Wer solche Hör-Erfahrungen gemacht hat, wird mit seinem «inneren Ohr» auch beim späteren stillen Lesen von Literatur mithören. Bei lyrischen Texten ist dies von ganz besonderer Bedeutung.

Mit Unterstützung der Lehrperson und anhand von geeigneten Aufgabenstellungen kann das gemeinsame Lesen im Klassenverband die Basis dafür sein, gestaltete Sprache – z. B. ein Gedicht oder eine Erzählung – nicht nur zu genießen, sondern auch auf verschiedenen Ebenen zu verstehen. Im gegenseitigen Austausch werden Verstehenslücken geschlossen und wird das, was zwischen den Zeilen steht, ins Bewusstsein und zur Sprache gebracht. Gemeinsam werden Bilder imaginiert oder Szenen nachgespielt (das Nachspielen ist eine ausgezeichnete Form der Verständniskontrolle und der Vertiefung des Verstehens). Die Charaktere und Handlungsweisen der einzelnen Figuren können interpretiert und diskutiert werden, und miteinander kann thematisiert werden, was man beim Lesen eines literarisch gestalteten Textes empfindet. Gemeinsames Reflektieren, Diskutieren und Verarbeiten hilft den Schüler/innen, die Aussagen eines Textes auch wirklich zu verstehen. Und es ist immer erfolgversprechender und führt zu mehr Erkenntnissen als das Nachdenken über Gelesenes im stillen Kämmerlein.