Dass es wichtig ist, in der eigenen Herkunfts- oder Erstsprache lesen und schreiben zu können, liegt auf der Hand: Wer nicht über diese literalen Fähigkeiten verfügt, bleibt zwangsläufig Analphabet/in in seiner Erstsprache, verliert den Anschluss an deren Schriftkultur und ist in seiner bikulturell-bilingual-biliteralen Entwicklung ernsthaft gefährdet. Wer dagegen über literale Kompetenzen auch in der Erstsprache verfügt, dem eröffnen sich reiche und vielfältige Möglichkeiten. Sie reichen vom Zugang zur Literatur des eigenen Volkes bis zur Möglichkeit, in der Migration und im Herkunftsland an dessen schriftlichem Leben teilzunehmen, sich Informationen aus Büchern und mittels elektronischer Medien zu beschaffen, und bis dahin, dass vielleicht auch die eigenen beruflichen Chancen um eine wertvolle Facette ergänzt werden.

Zumindest bei jenen Erstsprachen, die das lateinische Alphabet verwenden, würde man auf den ersten Blick keine allzu großen Probleme hinsichtlich des Lesens erwarten. Zu Unrecht: Probleme und Schwierigkeiten gibt es sehr wohl. Wir können sie in drei Gruppen zusammenfassen:

a) Probleme mit dem Grapheminventar (spezielle Buchstaben und Akzente) und der Reihenfolge der Buchstaben

Die meisten Sprachen haben Sonderzeichen (ë, ç, đ, č, ş, ğ, ı, â, æ, ç, ã etc.). Diese Grapheme werden im Rahmen der Alphabetisierung im Regelunterricht der Schule des Einwanderungslandes nicht gelernt. Dasselbe gilt für unterschiedliche Lautwerte einzelner Grapheme (Beispiel: <z> hat im Deutschen den Lautwert ts, in den meisten andern Sprachen repräsentiert es das stimmhafte s; <c> hat im Türkischen den Lautwert dsch, in den slawischen Sprachen den Lautwert ts und im Deutschen den Lautwert ts oder k). Manche Lautwerte werden je nach Sprache verschieden wiedergegeben. So entspricht dem Laut [ʃ] im Deutschen z. B. <sch>, im Englischen und Albanischen <sh>, im Türkischen <ş>, in den slawischen Sprachen <š> usw. Auch die Reihenfolge der Buchstaben im Wörterbuch ist nicht überall identisch; so stehen z. B. die ö- und ü-Wörter im Türkischen nach den o- und u-Wörtern, während sie im Deutschen bei diesen integriert sind und im Englischen und Portugiesischen überhaupt nicht vorkommen. Alle diese Besonderheiten müssen die Kinder zu Hause oder im HSU lernen, wenn sie ihre Erstsprache flüssig lesen und schreiben wollen. Um Verwirrungen mit der Alphabetisierung in der Sprache des Einwanderungslandes zu vermeiden, führen viele HSU-Lehrer/innen diese Besonderheiten erst zu Ende der ersten oder zu Beginn der zweiten Klasse ein. Bei nicht-lateinischen Alphabeten muss selbstverständlich die ganze Alphabetisierung in der Erstsprache erfolgen.

b) Probleme mit der Standardvariante der Erstsprache

Viele Kinder und Jugendliche sprechen ihre Erstsprache zu Hause nur in einer dialektalen Variante. Diese weicht bisweilen (z. B. bei manchen süditalienischen oder nordalbanischen Mundarten) so stark von der Standardsprache ab, dass sich vor allem beim Lesen ernsthafte Probleme ergeben. (Beim Schreiben sind sie etwas geringer, da man auch im Dialekt schreiben kann.) Eine sorgfältige Einführung in die Standard- und Schriftvariante der eigenen Sprache ist eine der wichtigsten Aufgaben des HSU, wenn es darum geht, den Zugang zur eigenen Schriftkultur zu bewahren. Ganz besonders gilt dies für Schüler/innen aus bildungsferneren Familien, die von zu Hause aus wenig oder gar keinen Kontakt mit der Schrift- oder Standardvariante ihrer Sprache haben.

c) Probleme in Zusammenhang mit fehlender literaler Tradition und Unterstützung seitens des Elternhauses

Diese Dimension von Schwierigkeiten und Problemen ist nicht spezifisch für den HSU, vielmehr hängt sie mit der Bildungsnähe bzw. -ferne des Elternhauses zusammen. Ganz pauschal lässt sich sagen: Kinder und Jugendliche, die von zu Hause aus an den Umgang mit Büchern und Schrift gewöhnt sind, haben in unseren schrift- und textorientierten Schulen und Gesellschaften deutlich bessere Voraussetzungen und Perspektiven als solche, denen diese Voraussetzungen fehlen. Besonders stark betroffen ist natürlich das Lesen in der Erstsprache, während jenes in der Schulsprache durch den Regelunterricht über Jahre hinweg aktiv gefördert wird. Bei der Kompensation dieser Defizite kann der HSU eine wichtige Rolle spielen. Dies ist um so bedeutungsvoller, als das hier Erworbene den betreffenden Schüler/innen nicht nur im HSU, sondern auch im Regelunterricht zugute kommt. Vertiefte Informationen zu diesem Punkt finden sich im Hand- und Arbeitsbuch «Grundlagen und Hintergründe», Kap. 1, 2 und 8, ferner in Sträuli et al. (2005), S. 130 ff., und in Bibliomedia, QUIMS (siehe Literaturverzeichnis).

Zur Frage: «Wo liegen die Hauptprobleme der Schüler/innen im Bereich Lesen in der Erstsprache im HSU?», haben wir vorgängig zu diesem Heft eine kleine Umfrage unter HSU-Lehrer/innen durchgeführt. Die Antworten entsprechen den obigen drei Kategorien, wie die folgenden Beispiele zeigen:


  • «Die Schüler/innen können die Aussprache der Buchstaben q, ç, gj, xh, sh etc. im Albanischen nicht richtig auseinanderhalten, auch haben sie Mühe mit unserer Standardsprache.»

  • «Die Schüler/innen haben Mühe mit den speziellen Zeichen der türkischen Sprache. Zudem kennen sie viele Wörter nicht, da ihr Wortschatz sehr klein ist.»

  • «Ein Problem sind die Unsicherheiten bei den speziellen Buchstaben unserer Sprache und bei der Aussprache der verschiedenen Buchstaben. Die Schüler/innen haben diese Unterschiede im Regelunterricht natürlich nicht gelernt. Ich muss das mit den Kleinen sehr sorgfältig erarbeiten und üben, sonst machen sie immer wieder Fehler in der Aussprache oder verwechseln manche Buchstaben.»

  • «Die geringe Anzahl an Wochenstunden und der dadurch stark verminderte Kontakt der Schüler/innen zur Standardsprache erschwert das Lesenlernen. Die meisten Schüler/innen sprechen zu Hause Dialekt und werden von den Eltern kaum unterstützt.»

  • «Beim Lesen in der Erstsprache ist es ein Problem, dass die Schüler/innen dies meistens nur im HSU und kaum je zu Hause tun. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass sie zu Hause Dialekt sprechen. Dadurch haben sie Mühe, Wörter in der Standardsprache zu lesen, und verstehen diese teilweise auch nicht.»

  • «Die Hauptprobleme der Schüler/innen liegen meist darin, dass sie wenig Lesepraxis haben. Folgende Gründe lassen sich dafür nennen:
    a) Auch die Eltern lesen wenig; die Kinder sehen sie kaum je beim Lesen.
    b) Den Kindern werden keine oder nur selten Geschichten vorgelesen.
    c) Während ihrer Aufenthalte im Herkunftsland wird vor allem die mündliche Sprache praktiziert.»

  • «Die Motivation der Schüler/innen in Bezug aufs Lesen generell ist gering. Noch geringer ist sie hinsichtlich des Lesens in der Muttersprache, weil sie damit noch mehr Mühe haben.»

Lesekompetenzen (wie auch Schreibkompetenzen und viele Lerntechniken und -strategien) sind nicht an eine bestimmte Sprache gebunden. Wer sie in einer Sprache erworben hat, kann sie gut auch auf seine anderen Sprachen transferieren und in diesen nutzen. Aus diesem Grund nützt das, was der HSU für die Förderung des Lesens in der Erstsprache leistet, den Schüler/innen auch in ihrem regulären Schulalltag. Zugleich wäre es besonders zu wünschen, dass HSU- und Regelunterricht hinsichtlich des Aufbaus von Lesekompetenz und -freude möglichst eng kooperieren würden. Auch dies wird in Statements unserer Umfrage angesprochen:


  • «Schüler/innen, die in der Schulsprache gut und flüssig lesen, tun dies auch in der Erstsprache besser. Die Lesekompetenzen sind sprachübergreifend.»

  • «Lesen ist eine Technik, die geübt werden muss. Wer diese Technik in einer Sprache beherrscht, wird sie auch für jede weitere Sprache nutzen können. Und: Wenn ein Kind gerne liest, liest es gern in allen Sprachen. (…) Es ist wichtig, globales, gezieltes und deutendes Lesen mit allen Sprachen zu verknüpfen, in allen Sprachen zu erproben. Den Lehrpersonen und Schüler/innen muss klar sein, dass sie die meisten Lesestrategien und -techniken in allen Sprachen anwenden können.»

  • «Sehr von Vorteil wäre eine enge Zusammenarbeit zwischen den Lehrer/innen des HSU und denen des Regelunterrichts. Dadurch könnten beide konkret und effizient an einer Unterstützung der Schüler/innen im Bereich Lesen arbeiten.»