Mündlichkeit spielt im Sprachunterricht eine wichtige Rolle; dies gilt natürlich auch für den herkunftssprachlichen Unterricht. Deutlich wird die Bedeutung dieser Rolle schon darin, dass sich (vor allem in den unteren Klassen) der überwiegende Teil der Kommunikation im Unterricht mündlich abspielt. Wer sich am Unterrichtsgeschehen beteiligen will, muss also einerseits zuhören und zuhörend verstehen können, andererseits muss er über verschiedene produktive Fähigkeiten im Bereich der Mündlichkeit verfügen. Die prominente Stellung der Mündlichkeit zeigt auch die folgende Übersicht der sprachlichen Fertigkeits- und Förderbereiche:
Rezeptive Fertigkeiten |
Produktive Fertigkeiten | |
Mündlichkeit: Primäre, «angeborene» Fertigkeiten |
Hören (Hörverstehen) |
Sprechen |
Schriftlichkeit: Sekundär erworbene Kulturtechniken |
Lesen (Leseverstehen) |
Schreiben |
Flankierend zu den beiden großen Bereichen Mündlichkeit und Schriftlichkeit wäre der Erwerb von Wortschatz und Grammatik zu nennen, der einerseits «natürlich» und ungesteuert erfolgt, andererseits in der Schule unterstützt und ausgebaut wird.
Der Aufbau der Kulturtechniken Lesen und Schreiben setzt in den allermeisten Fällen entwickelte Fähigkeiten in den mündlichen Bereichen des Hörens und Sprechens voraus. Der Großteil der Kinder bringt bei Schuleintritt diesbezüglich gute Kompetenzen mit, zumindest was den alltagssprachlichen Sprachgebrauch betrifft. Dass der schulische Sprachunterricht trotzdem eine ganze Palette von Entwicklungsaufgaben auch im Bereich der Mündlichkeit hat, liegt auf der Hand. Auf die diesbezüglichen Schwerpunkte (Gesprächsdidaktik, Erzählen, Präsentieren etc.) geht Kapitel 4a: «Ziele und Arbeitsfelder im Bereich der Mündlichkeit», ein. Diese Schwerpunkte sind auch für den HSU maßgeblich und bilden die Grundlage der Einteilung der Unterrichtsvorschläge im Praxisteil dieses Hefts.
Daneben gibt es in den Bereichen Phonetik, Wortschatz und Syntax einige Besonderheiten der mündlichen Förderung im HSU, auf die wir vorgängig speziell eingehen möchten. Ihre Ursache ist das Nebeneinander von Dialekten und Standardsprache in vielen Sprachen und der Umstand, dass viele Schüler/innen ihre Erstsprache von zu Hause her fast nur in einer dialektalen Variante kennen. Für den HSU, zu dessen Zielen ja die Einführung in die Standardsprache gehört, können daraus die folgenden Aufgaben und Arbeitsbereiche resultieren:
a) Sorgfältige Einführung in das Phoneminventar der Erstsprache
Hierzu zählen die Bewusstmachung und das akustische Training vor allem jener Laute der Standardsprache, die vom Dialekt her evtl. unbekannt sind oder nicht unterschieden werden. Ein Beispiel: In den süd- slawischen Sprachen werden die Laute bzw. Phoneme ‹tsch› und ‹tch› (wie in ‹Hütchen›) unterschieden; für Ersteres steht ‹č›, für tch ‹ć›. Im Albanischen wird der gleiche Unterschied mit den Graphemen ‹ç› und ‹q› markiert. In manchen Dialekten wird diese Unterscheidung (die auch für Ausländer/innen schwierig ist) kaum oder nicht gemacht. Dies bedeutet, dass hier besondere Hör- und Sprechübungen nötig sind. Ihr Ziel ist, das Ohr der Kinder zu sensibilisieren, da diese Unterschiede ja auch für die Rechtschreibung relevant sind. Ohne das entsprechende Training würden die Schüler/innen in ihren Texten immer wieder Fehler machen, die aus dieser fehlenden Differenzierung resultieren. (Ein Beispiel aus dem Deutschunterricht sind Schreibweisen wie «Kese» und «Medchen» statt «Käse» und «Mädchen» bei Kindern, die den Unterschied von ‹ä› und langem ‹e› nicht erfasst haben.) Akustische Differenzierungsübungen (die die meisten Kinder schon vom Regelunterricht her kennen) lassen sich problemlos durchführen; vgl. die Anregungen bei Nr. 1 im Praxisteil. Einen besonders geeigneten Kontext hierfür bildet die Einführung der betreffenden Schriftzeichen in der ersten oder zweiten Klasse.
b) Wortschatzarbeit
Eine sprachliche Ebene über den Phonemen und Graphemen liegen die Wörter. Auch hier kann es mannigfache Unterschiede zwischen der Standardvariante und den Dialekten der Erstsprache, aber auch zwischen den verschiedenen Dialekten geben. Diese Unterschiede sollen thematisiert und wenn möglich auch auf einer Karte visualisiert werden; hier liegen wertvolle Potenziale für Sprachreflexion und das Kennenlernen der eigenen Sprache in all ihren Facetten. Daneben sollen natürlich schrittweise und behutsam die standardsprachlichen Begriffe eingeführt und geübt werden. Vielleicht bekommen die Schüler/innen hierfür ein kleines Heft, in dem sie Wörter und Wendungen notieren, mit denen sie dann Sätze bilden, zuerst mündlich, anschließend eventuell auch schriftlich. Die Arbeit am Wortschatz, um die es hier geht, stellt einen wichtigen Bereich der Sprachförderung im HSU dar und sollte sehr bewusst gepflegt werden. Der Grund ist einleuchtend: Viele Kinder und Jugendliche, die in der Migration aufwachsen, beherrschen ihre Erstsprache nurmehr eingeschränkt, d.h. auf den alltäglich-häuslichen Wortschatz, auf den mündlichen Gebrauch und auf den Dialekt reduziert. Dass viele von ihnen sich in der Schulsprache des Einwanderungslandes stärker fühlen, ist dann auch kein Wunder, werden sie in dieser doch täglich und systematisch gefördert. Der HSU stellt eine zentrale (und für Kinder aus bildungsferneren Verhältnissen fast die einzige) Institution dar, wenn es um das wichtige Ziel geht, auch die Erstsprache für einen anspruchsvolleren Gebrauch verfügbar zu machen. Die Mündlichkeit – das verstehende Hören und das eigene Sprechen – spielt hier eine Rolle, deren Bedeutung nicht hoch genug geschätzt werden kann. Sie erlaubt Begegnungen und Versuche mit neuen Facetten des Sprachgebrauchs, die meist einfacher und angstfreier sind als jene im schriftlichen Bereich. Damit sind reflektierte und gut geplante Lernarrangements im Bereich der Mündlichkeit auch dort von höchstem Wert, wo es um das Ziel des Erwerbs guter literaler Kompetenzen in der Erstsprache geht.
c) Erweiterte Redemittel und Syntax
Wortschatzarbeit, die sich auf Einzelwörter beschränkt, greift zu kurz. Bereits erwähnt wurden die Wendungen, die selbstverständlich ebenfalls zum Wortschatz einer jeden Sprache gehören. Auch sie müssen bewusst gemacht, festgehalten und mehrfach geübt und angewendet werden, damit sie in den aktiven Besitz der Schüler/innen übergehen. Als methodisch sinnvoller Aufbau bewährt sich oft, dies zuerst mündlich und anschließend schriftlich zu tun. Das Gleiche gilt für die zwei folgenden Typen von Wortgruppen bzw. Redemitteln:
- 1. Sogenannte «Chunks», d. h. Wendungen oder Floskeln wie «Ich hätte gern …», «Darf ich bitte …», «Könnten Sie mir bitte …» etc. Chunks sind von hohem Gebrauchswert in alltäglichen, leicht formalisierten Kommunikationssituationen. Dass die Kinder sie auch in der Standardvariante ihrer Erstsprache kennen, gehört zu den Voraussetzungen von deren Beherrschung. Zum Training eignen sich bestens spielerische Situationen wie z. B. kleine Rollenspiele.
- 2. Als Redemittel mit besonders hohem Nutzwert für den schulischen Gebrauch sollte ferner eine Reihe von Wendungen zur Verfügung stehen, die bei Beschreibungen, in Diskussionen, in kleinen Vorträgen etc. immer wieder gebraucht werden. Bezogen auf den Bereich «Diskussionen» zählen hierzu Redemittel bzw. Satzbausteine wie z. B. «Meiner Meinung nach ist es so, dass …», «Da bin ich aber anderer Ansicht», «Dem stimme ich völlig/gar nicht zu», «Das ist grundsätzlich richtig, aber …» usw. Solche Redemittel müssen zuerst mit den Schüler/innen zusammengetragen werden. Hierbei kann der Rückgriff auf die Schulsprache sehr nützlich sein, da von dieser her sicher manches schon bekannt ist. Anschließend sollen die Redemittel schriftlich festgehalten und ausgiebig trainiert werden. Im Handbuch «Grundlagen und Hintergründe» finden sich in Kap. 7 B.4 Fotografien aus dem spanischen HSU in London, welche die Visualisierung einfacher Redemittel zeigen, die einen wertvollen Beitrag zur Erweiterung der erstsprachlichen Kompetenzen leisten. Im Praxisteil zeigt die Nr. 12 dieses Hefts, wie man die Schüler/innen durch die Vorgabe von Satzbausteinen dabei unterstützen kann, im Gespräch aufeinander Bezug zu nehmen und damit die Kohärenz der Diskussion zu festigen.
Mit der nächsthöheren sprachlichen Ebene – der Grammatik mit ihren Teilbereichen Morphologie und Syntax – verbinden sich je nach Erstsprache und je nach den Unterschieden von Dialekt und Standardsprache unterschiedliche Anforderungen. Kosovarische Schüler/innen haben hier u. a. die spezielle Infinitivkonstruktion der albanischen Standardsprache zu lernen, südslawische die korrekte Verwendung der Kasus in der Standardvariante, usw. Als lernpsychologisch übergreifende Richtlinie für einen nachhaltigen Erwerb gilt sicher, dass die Schüler/innen das, was sie lernen sollen, zuerst begriffen (am besten: sich durch entdeckendes Lernen bewusst gemacht) und es in mehrfachen Formen und Phasen geübt und angewendet haben sollen. Dabei spielt die Mündlichkeit eine wichtige Rolle, wenn es um das Erkennen und Benennen, aber auch um dialogische, handlungsorientierte Übungs- und Anwendungsformen geht.
d) Vernetzung von Erst- und Zweitsprache
HSU-Schüler/innen kennen und beherrschen nicht nur ihre Erstsprache, sondern auch die Schulsprache des Landes, in dem sie leben. Oft fühlen sie sich in dieser sogar kompetenter, was angesichts der täglichen schulischen Förderung auch nicht erstaunt, wie bereits ausgeführt wurde. Bei der Förderung in der Erstsprache, um die es im HSU geht, sollen unbedingt die Ressourcen und Kompetenzen genutzt werden, über welche viele Schüler/innen von der Schulsprache her verfügen. Dazu zählt z. B. ein Wortschatz, der nicht selten umfassender ist als das auf häusliche und familiäre Themen beschränkte Vokabular in der Erstsprache. Das bedeutet, dass man bei der Wortschatzarbeit in der Erstsprache oft auf die Schulsprache zurückgreifen kann, in der manche Begriffe vorhanden und geklärt sind. Lange Erläuterungen in der Erstsprache erübrigen sich dann; es geht nur noch darum, den Begriff in derselben zu vermitteln und anwenden zu lassen. Dies betrifft vor allem das anspruchsvollere, schulisch geprägte Vokabular, das für eine gute Sprachbeherrschung unverzichtbar ist. Aber auch für die erwähnten erweiterten Redemittel kann man oft auf die Schulsprache zurückgreifen. Durch diese Bezüge kann als großer Vorteil auch dem sehr problematischen Auseinanderfallen der Wortschätze in der Erst- und Schulsprache entgegengewirkt werden, wie er sonst oft zu beobachten ist (meist so, dass die Kinder das familiär-häusliche Vokabular in der Erstsprache und das schulisch-anspruchsvollere Vokabular in der Schulsprache beherrschen). In einem weiteren Sinne können und sollen diese Ressourcen und Vorkenntnisse aus dem Regelunterricht auch bei der Betrachtung grammatikalischer Phänomene oder bei der Vermittlung von Lernstrategien (vgl. hierzu Heft 5 dieser Reihe) genutzt werden. In all diesen Fällen spielt die Mündlichkeit als Medium der Besprechung und des Trainings auch dann eine wichtige Rolle, wenn das abschließende Ziel die Steigerung der literalen Kompetenzen ist. Dass dieses Medium nur dann gut genutzt werden kann, wenn dem Erwerb und Aufbau der mündlichen Kompetenzen genügend Zeit und Aufmerksamkeit gewidmet wurde, liegt auf der Hand.