Neben der Schriftlichkeit ist die Mündlichkeit der zweite große Bereich der Sprachverwendung. (Genau genommen sogar der erste: Sowohl in der Geschichte der Menschheit wie auch in derjenigen fast aller Individuen erscheinen die Kulturtechniken Schreiben undLesen erst nach einer langen Phase rein mündlicher Kommunikation.)

Mündlichkeit umfasst die beiden Aspekte Zuhören und Sprechen. Damit sind die rezeptive (Hören/Hörverstehen) und die produktive Seite (Sprechen) der mündlichen Kommunikation angesprochen. Insbesondere ist damit auch signalisiert, dass die Förderung des Zuhörens eine gleichwertige und wichtige Rolle spielt, wenn es um die Entwicklung kommunikativer Kompetenzen geht.

Die Arbeit im Bereich der Mündlichkeit hat eigene Regeln zu beachten, verläuft aber nicht losgelöst von der schriftlichen Förderung. Vielmehr stehen die beiden Großbereiche in einem Verhältnis zueinander, das als zirkulär bezeichnet werden kann: Was im mündlichen Bereich geübt wurde, kommt anschließend der Schriftlichkeit zugute, und umgekehrt hat eine entwickelte Schriftlichkeit Auswirkungen auf die Differenziertheit des mündlichen Ausdrucks.

Zu den spezifischen Charakteristika des mündlichen Sprachgebrauchs zählen die folgenden Punkte, die auch für die Arbeit in der Schule von Bedeutung sind:


  • In mündlichen Kommunikationssituationen befinden sich die Gesprächspartner/innen normalerweise zur selben Zeit am selben Ort. Damit wird der Einsatz von mimischen und gestischen Mitteln und von nonverbalen, situativen Signalen (z. B. Hinweise auf eine Person in der Nähe oder auf den bewölkten Himmel) möglich. Diese Mittel helfen, das Verständnis zu stützen, was angesichts der «Flüchtigkeit» der mündlichen Kommunikation sinnvoll und funktional ist. In schriftlichen Situationen, bei denen die Schritte «Schreiben» und «Lesen» zeitversetzt stattfinden und durch Überarbeiten und Nachlesen auch wiederholt werden können, ist das ganz anders. (Eine besondere Position, auf die wir hier nicht eingehen, nehmen Telefongespräche oder schriftliche Chats ein.)

  • In sprachlicher Hinsicht folgt die Mündlichkeit eigenen Regeln, die sich von jenen der geschriebenen Sprache unterscheiden. So sind unvollständige Sätze, Satzabbrüche, Wiederholungen, punktuelle Sprachwechsel (z. B. von der Erstsprache zur Schulsprache oder vom Standard zum Dialekt), assoziative Sprünge usw. normal und stören im Alltagsgespräch nicht oder nur in Ausnahmefällen. Im Falle «kultivierter» Mündlichkeit wie etwa bei einem Vortrag in der Schule gelten strengere, mehr an der Schriftlichkeit orientierte Normen. Auch hier wäre es aber definitiv falsch, von den Schüler/innen zu verlangen, dass sie quasi «wie gedruckt» sprechen. Allerdings soll dies nicht bedeuten, dass man auf Trainingssituationen verzichtet, in denen ganz bewusst ein gepflegter mündlicher Stil geübt und in motivierenden Kontexten (szenische Darstellung, Vortrag etc.) praktiziert werden soll.

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