Im herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) kann das Nebeneinander von Dialekten und Standardsprache zu Problemen führen. Zu den Gründen zählen die folgenden:


  • Viele Schüler/innen kennen von zu Hause her nur oder fast nur die in ihren Familien gesprochene Mundart – und auch diese meist nur in der mündlichen Form und mit einem auf das Häusliche und Familiäre beschränkten Wortschatz. Diese Kenntnisse sind fraglos wenig umfassend. Trotzdem stellen sie für das Kind einen hohen emotionalen und identitären Wert dar: Es geht um seine Muttersprache, wie sie von seinen Eltern, seiner Familie und Angehörigen gesprochen wird. Wer diese Sprache verächtlich macht, greift das Kind in einem existentiellen Bereich seiner sprachlichen und kulturellen Identität an. Dasselbe gilt für die Abwertung von Sprachformen, die für das Aufwachsen in einem bikulturell-bilingualen Kontext charakteristisch sind, insbesondere für die (oft vorübergehende) ‚Vermischung‘ von Erst- und Zweitsprache (Code-Switching, Code-Mixing).
    Wichtig ist, mit Blick auf die Schüler/innen des herkunftssprachlichen Unterrichts, ein zweiter Aspekt: Gerade wegen ihrer oft bescheidenen Voraussetzungen haben manche von ihnen eine reservierte oder ablehnende Haltung gegenüber der Standardsprache. Diese scheint ihnen schwer verständlich oder zu kompliziert zu sein. Diese Vorbehalte und die damit verbundene Abwehrhaltung abzubauen ist eine zentrale Aufgabe des herkunftssprachlichen Unterrichts. Altersgerechte, ansprechende und nicht überfordernde Lernanlässe sind der beste Weg, diese Aufgabe zu bewältigen.

  • Unter den Lehrer/innen des herkunftssprachlichen Unterrichts (und unter anderen Gebildeten) findet sich demgegenüber nicht selten eine gegenüber dem Dialektsprechen (und erst recht gegenüber dem Code-Switching) ablehnende Haltung, die bis hin zu Positionen des Sprachpurismus gehen kann. Als ‚rein‘ oder ‚sauber‘ und als ‚Sprache mit Grammatik‘ gilt hier nur die Standardsprache bzw. Standardvariante – womit der Dialekt implizit zu etwas ‚Unreinem/Unsauberem‘ und zu einem Sprachgebrauch ‚ohne Grammatik‘ entwertet wird.

  • Zu den zentralen Aufgaben des herkunftssprachlichen Unterrichts gehört ohne jeden Zweifel die Einführung in die Standardsprache und in die Kulturtechniken resp. Kompetenzbereiche Lesen und Schreiben. (Die Gründe sind plausibel: Wer nicht lesen und schreiben kann, bleibt Analphabet/in in seiner Sprache; wer die Standardsprache nicht einigermassen beherrscht, bleibt ausgeschlossen von der Schriftkultur des eigenen Volkes und von der Möglichkeit, überregional zu kommunizieren.) Die Lehrer/innen sind also keineswegs im Unrecht, wenn sie starkes Gewicht auf die Vermittlung der Standardvariante legen – was allerdings die Wertschätzung der anderen Varietäten und die Auseinandersetzung mit ihnen keineswegs ausschliesst!

  • Terminologisches
    Erstsprache: Anstelle der Begriffe «Muttersprache» oder «Familiensprache» verwenden wir den in der deutschen Fachliteratur gängigeren Begriff «Erstsprache».
    Varietät: Eine spezifische Form bzw. ein spezifisches Subsystem einer Sprache. Beispiele: die standardsprachliche und die dialektalen Varietäten einer Sprache, gruppen- oder schichtspezifische Formen des Sprachgebrauchs (Soziolekte). Wichtig: In den Unterrichtsvorschlägen verwenden wir statt des Fachbegriffs ‚Varietät‘ die Begriffe ‚Variante‘ oder ‚Form‘.
    Dialekt/Mundart: Regionale oder lokale Varietät einer Sprache.

    • Die Begriffe ‚Dialekt‘ und ‚Mundart‘ werden im Deutschen und in vielen anderen Sprachen synonym verwendet. In anderen Sprachen, z. B. im Albanischen, bezeichnet der Terminus ‚Dialekt‘ eine regionale Varietät (z. B. der Thurgauer Dialekt bzw. Thurgauer-Deutsch, der gegische Dialekt bzw. Gegisch). Der Begriff ‚Mundart‘ dagegen bezieht sich auf kleinere (lokale) geografische Einheiten (z. B. die Mundart von Ermatingen, die Mundart von Rahovec).

    Regiolekt: Eine Varietät, die einen grösseren Raum von Einzeldialekten umfasst, z. B. Bairisch, Ostschweizerdeutsch (als dialektübergreifende Sprachform der Ostschweizer Kantone).

    Standardsprache (auch Schrift- oder Hochsprache genannt): Die für einen ganzen Sprachraum gültige, hinsichtlich Grammatik, Rechtschreibung und Wortschatz normierte Varietät einer Sprache. Ziel der Normierungen ist es, die Verständigung im gesamten Sprachraum zu erleichtern, dies vor allem mit Blick auf eine einheitliche Schriftsprache. Gegenüber den Dialekten und Mundarten sind die Standardsprachen deutlich jünger. Manche von ihnen entstanden, indem sich ein bestimmter Dialekt durchsetzte, andere wurden im Rahmen von Konferenzen gebildet und normiert. Zu ergänzen bleibt das Phänomen der so genannten Pluri- oder Polyzentrizität: In manchen Sprachen gibt es nationale oder regionale Varianten der Standardsprache. Beispiele: Englisch in England und den USA, Deutsch in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Standardalbanisch in Albanien und Kosova.

    Diglossie: Das Nebeneinander von zwei verschiedenen Varietäten derselben Sprache (Beispiel Dialekt(e) – Standardsprache), die je situationsspezifisch verwendet werden. Von medialer Diglossie spricht man, wenn – wie z. B. in der deutschsprachigen Schweiz – eine Varietät vorwiegend dem Medium der Schriftlichkeit und die andere dem Medium der Mündlichkeit zugeordnet ist.

    Code-Mixing, Code-Switching, translanguaging: ‚Gemischter‘ Sprachgebrauch, in dem Elemente (vor allem Wörter und Wendungen, seltener syntaktische Strukturen) aus zwei Sprachen kombiniert resp. aktiviert werden. Code-Mixing ist charakteristisch für viele Jugendliche in der Migration, sie nutzen in ihm ihre bilingualen Potenziale und haben teil an Sprachformen (z. B. «Balkandeutsch»), die auch zur Identität einer Gruppe beitragen können. Die frühere Abwertung des Code-Mixings als ‚unreinem Sprachgebrauch‘ weicht heute einer weniger normativen Sicht auf dessen funktionale und identitäre Möglichkeiten.


Inhaltsverzeichnis