Der Bereich der Mündlichkeit ist ein riesiges Feld mit einer umfangreichen Literatur in verschiedenen Sprachen und Traditionen. Die verschiedenen Traditionen spiegeln sich z. B. im unterschiedlichen Stellenwert, den Zielbereiche wie «demokratisches Diskutieren im Klassenrat» oder aber «ausdrucksvolles Rezitieren von Gedichten» in verschiedenen Kulturen hatten und haben. Wir beschränken uns im Folgenden auf einige wenige Punkte, über die in der Mündlichkeitsdidaktik der west- und nordeuropäischen Einwanderungsländer Konsens bestehen dürfte und die auch für die Praxis des HSU von Interesse sind.

a) Ziele und Arbeitsfelder im Bereich der Mündlichkeit

Das übergreifende Ziel der schulischen Förderung in den Bereichen Zuhören und Sprechen ist die Stärkung der kommunikativen Handlungskompetenz der Schüler/innen. Dies geschieht sowohl im Regelunterricht als auch im HSU in je altersgemäßer Weise und unter Beachtung des zusätzlichen Ziels, die Schüler/innen zu einer immer kompetenteren Handhabung der Standardsprache zu führen.

Bei der mündlichen Sprachproduktion, d.h. beim Sprechen, unterscheidet man dialogische und monologische Formen mit je spezifischen Zielsetzungen und Arbeitsweisen. Auf die dialogischen Formen bezieht sich die ganze Gesprächserziehung. Ihr Ziel sind sowohl ein adäquates Verhalten in Dialogen, Konfliktgesprächen, sozialen Rollenspielen, Interviews, (gespielten) Telefongesprächen etc. wie auch das demokratische, evtl. von Gesprächsregeln geleitete Rede- und Zuhörverhalten in Gruppendiskussionen, Klassengesprächen, Debatten zur Lösung eines Konflikts usw. Zu den monologischen Formen zählen das Erzählen, Vortragen und Präsentieren in verschiedenen Kontexten (wobei die klare, ansprechende Vermittlung eines Inhalts im Zentrum steht), aber auch das Rezitieren, das bewusst sprachgestaltende Vorlesen und manche Formen des Schultheaters, bei denen es (auch) um ausdrucksstark gestaltete Sprache geht.

Der Aspekt «Zuhören» wird in aller Regel in Zusammenhang mit dem Sprechen und den dortigen Zielen trainiert. Er muss aber unbedingt durch entsprechende, gezielte Aufträge gestützt werden – sei es, dass sich diese auf das Erfassen des Inhalts, das demokratische Gesprächsverhalten oder auf die Qualität einer Gedichtrezitation beziehen. Bloßes Zuhören ohne klaren Auftrag und Fokus leistet wenig. Wichtig ist der Aspekt «differenziertes Zuhören» auch für jene Lernsituationen, in denen es um die Beobachtung von sprachlichen Besonderheiten geht, z. B. um das Erkennen von dialektalen Varianten in der Erstsprache (anhand von Hörproben) oder um die Sensibilisierung für bestimmte Eigenheiten in der mündlichen Sprache einer Person oder Gruppe. Die Kompetenzen im Zuhören kommen hier dem wichtigen und spannenden Bereich der Sprachreflexion zugute.

Neben den genannten Formen, bei denen es vor allem um kommunikative Übungen und Lernsituationen geht, gibt es noch den Typus der fertigkeitsbezogenen Trainingssituationen. Hier steht nicht ein Sachinhalt, sondern ein sprachlicher Aspekt im Zentrum. In diese Kategorie gehören die bereits erwähnten Übungen zur Differenzierung ähnlicher Phoneme (Bsp. č / ć, siehe Kap. 2a) und weitere Hör- und Ausspracheübungen vor allem in den unteren Klassen. Das entsprechende Training kann entweder durch reproduktives oder, etwas freier, durch gelenktes Sprechen erfolgen (beim reproduktiven Sprechen wird ein Muster durch Nachsprechen eingeschliffen, beim gelenkten Sprechen wird eine gegebene Vorlage variiert; vgl. hierzu das sog. Scaffolding, das in Heft 1 [Förderung des Schreibens] in Kap. 4d der Einleitung wie auch im Handbuch «Grundlagen und Hintergründe» in Kap. 8 A.5a beschrieben ist). In einem weiteren Sinne lassen sich auch die Wortschatzarbeit und die Vermittlung erweiterter Redemittel zum fertigkeitsbezogenen Training zählen. Beide Bereiche sind im HSU von großer Bedeutung, weil sie helfen, die Schüler/innen zu einer entwickelten Kompetenz in der Erstsprache und zu einer möglichst ausgewogenen Bilingualität zu führen; vgl. Kap. 2b und 2c.

b) Zum Gesprächs- und Frageverhalten der Lehrerin/des Lehrers

Wenn Schüler/innen ihre mündlichen Sprachkompetenzen ausbauen und entwickeln sollen, brauchen sie dazu Zeit und Anwendungsgelegenheiten. In welchem Ausmaße sie dies haben, hängt maßgeblich vom Gesprächs- und Frageverhalten der Lehrperson ab. Wenn Lehrer A stets nur im traditionellen engen «Abfrage-Modus» kommuniziert («Wie heißt der längste Fluss in unserem Land?», «Wo wohnte der Held unserer Geschichte?» etc.), werden sich seine Schüler/innen sprachlich kaum entfalten können. Wenn Lehrerin B dagegen, statt solche engen und unechten Fragen zu stellen, sich mit offenen Fragen oder, noch besser, mit Impulsen an die Klasse wendet, werden die Schüler/innen automatisch zu einer entfalteten mündlichen Sprachproduktion geführt. Beispiele solcher Fragen und Impulse sind: «Was habt ihr über die Flüsse und Seen in unserem Land alles gelernt?», «Diskutiert, was euch am Verhalten des Helden unserer Geschichte gefällt oder stört!».

Leider tendieren viele Lehrer/innen – intuitiv und vermutlich aufgrund ihrer eigenen Schulerfahrungen – zu einem Frage- und Gesprächsverhalten, das den Schüler/innen viel zu wenig Sprechgelegenheiten einräumt. Untersuchungen zeigen, dass die Redeanteile ganz normaler Lehrer/innen oft 20 bis 30 Mal höher als die der einzelnen Schüler/innen sind. Um diese Situation im eigenen Unterricht zu verbessern, hilft es schon, die folgenden Punkte zu beachten:


  • Die Antworten von Schüler/innen nicht wiederholen (dieses sogenannte «Lehrer-Echo» wirkt inflationär und verhindert, dass sich die Schüler/innen daran gewöhnen, laut und verständlich zu sprechen). Ähnlich ungut ist das rituelle Quittieren der Antworten mit «gut!», «super!», «genau» etc.; es entspricht einem überholten, lehrerzentrierten Stil.

  • Bei Gesprächen über Texte, Sachinhalte, Probleme und Konflikte möglichst mit Gesprächsimpulsen oder zumindest mit weiten, echten Fragen arbeiten (und unechte, enge Fragen vermeiden). Solche Impulse für den Einstieg ins Gespräch und dessen Weiterführung müssen bei der Planung sorgfältig überlegt werden; erst nach einiger Zeit und Übung hat man sie als Lehrer/in quasi verinnerlicht.

  • Mit der Klasse Regeln und Rituale vereinbaren und einüben, die einem als Lehrer/in erlauben, so weit als möglich in den Hintergrund zu treten. In Gruppendiskussionen oder Klassengesprächen beispielsweise können die Schüler/innen sich sehr gut selbst aufrufen bzw. das Wort weitergeben, wenn dies eingeübt wurde und wenn am Anfang ein Impuls oder Auftrag stand (und nicht eine Frage der Lehrperson, die automatisch nach einer Antwort verlangt).

  • Dem gleichen Ziel dient die Wahl von schüler/innenzentrierten Unterrichtsformen, bei denen die zentrale und auch von den Redeanteilen her dominante Position der Lehrperson zumindest reduziert wird (vgl. hierzu das Handbuch «Grundlagen und Hintergründe», v. a. Kap. 5 und 6). Im HSU, bei dem die Lehrperson meist mehrere Klassen oder Altersgruppen gleichzeitig managen muss, ist das zugegebenermaßen eine anspruchsvolle Aufgabe. Doch auch hier lässt sich Lehrerzentriertheit durch die Delegation von Verantwortung an Schüler/innen reduzieren.

c) Mündliche Leistungen beobachten, bewerten, gezielt fördern

Die Beobachtung und förderorientierte Bewertung von mündlichen Leistungen ist aufwendiger als jene von schriftlichen Texten. Mehrfaches Hinhören und Analysieren ist nur möglich, wenn man mit Ton- oder Videoaufnahmen arbeitet. Dies sprengt in aller Regel den Rahmen des Möglichen. Zumindest für sehr auffällige Fälle soll aber auch dieses Verfahren zum Zuge kommen (z. B. Tonaufnahme, während ein Kind einen Text vorliest), da es zu viel genaueren Ergebnissen führt.

Um der Gefahr pauschaler und damit wenig hilfreicher Bewertungen im Bereich der Mündlichkeit vorzubeugen, empfiehlt sich ein kriterienorientiertes und fokussiertes Vorgehen, das natürlich immer dem Alter oder dem Entwicklungsstand in der Erstsprache anzupassen ist. Wir verweisen hierfür auf Kap. 7 im Handbuch «Grundlagen und Hintergründe» (Leistungen förderorientiert beurteilen, mit guten Praxisbeispielen im B-Teil) und ergänzen diese um folgende Hinweise:


  • Bezogen auf «formelle», deklarierte Beobachtungs- und Beurteilungssituationen (z. B. bei einem Vortrag, einer Theaterszene, einer Rezitation etc.): Hier sollen vorgängig klare Kriterien vereinbart und kommuniziert werden, möglichst in Form eines Kriterienrasters mit mehreren Punkten. Damit wird die Beurteilung für die Schüler/innen transparenter und werden sofort auch Ansatzpunkte der anschließenden Förderung und Weiterarbeit sichtbar. Geeignete Übungen und Trainingsformen zu finden, gehört zur Professionalität der Lehrperson.

    Ein weiterer Vorteil von Beobachtungsbögen mit Kriterien ist, dass auch die Schüler/innen (zumindest ab ca. der 3. Klasse) den Bogen ausfüllen und damit ihre Sensibilität gegenüber den betreffenden Punkten stärken können. Ein Beispiel eines Beobachtungsbogens zur Beurteilung von Vorträgen findet sich im Handbuch «Grundlagen und Hintergründe» in Kap. 7 B.1; vgl. ferner im Heft «Förderung des Lesens in der Erstsprache» die Nr. 18 (Raster zur Selbstbeurteilung beim Vorlesen).


  • Bezogen auf «informelle», nicht speziell angekündigte Beobachtungen (z. B. bei Gruppen- oder Klassendiskussionen, Schüler/innen-Vorträgen, einzelnem Vorlesen oder ähnlichen beobachtbaren Darbietungen): Sinnvoll ist, wenn sich die Lehrperson auch bei solchen Situationen Notizen zu auffälligen Beobachtungen macht («X muss lernen, den anderen genauer zuzuhören und auf sie einzugehen», «Y hat Mühe mit der Aussprache des Lautes ‹s›», «Z hat große Fortschritte im freien Sprechen gemacht» etc.). Im Anschluss daran (oder zu einem späteren, geeigneten Zeitpunkt) kann die Lehrperson den betreffenden Schüler/innen ihre Beobachtungen mitteilen und ihnen, wenn nötig, konkrete Ratschläge zu einer Verbesserung erteilen.

 


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