1. Violeta Brakus: Vor welchen Problemen stehen die Lehrer/innen des HSU; wie gehe ich selbst mit diesen Problemen um?

Violeta Brakus stammt aus Serbien. Sie arbeitet in der französischen Schweiz (Lausanne, Crissier, Clarens, Leysin, Neuchâtel) als Lehrerin des serbischen HSU-Unterrichts.

Probleme, mit denen die HSU-Lehrer/innen konfrontiert sind, stellen sich in verschiedener Hinsicht. Ich zähle einige besonders wichtige Problemfelder auf.

In der Lehrer/innenbildung der Herkunftsländer (z. B. auf dem Balkan) gibt es keine Angebote, die die Lehrer/innen auf die ‹exterritoriale› Arbeit vorbereiten würden (z. B. ein Masterstudium, das den Lehrer/innen die soziokulturellen und methodisch-didaktischen Spezialqualifikationen vermitteln würde). Meistens werden die HSU-Lehrer/innen deshalb erst bei der Ankunft im Einwanderungsland mit dem für sie ganz neuen Unterrichtstypus «HSU» konfrontiert. Angesichts der veränderten organisatorischen Bedingungen dieses Unterrichts und einer Schülerschaft, welcher die Muttersprache oft beinahe als Fremdsprache vermittelt werden muss, werden die HSU-Lehrer/innen zwangsläufig selbst zu Schüler/innen, müssen improvisieren, innovativ werden, sich weiterbilden und sich im neuen kulturellen und pädagogisch-didaktischen Kontext orientieren – und all dies parallel zu ihrer Arbeit!

Die Lehrbücher, Arbeitshefte, Arbeitsblätter wie auch die pädagogische Literatur aus unserer Heimat basieren auf einem monolingualen und monokulturellen Zugang. Für die Migrantenkinder, die in der neuen Heimat geboren sind, sind sie meist inhaltlich inadäquat, zu umfangreich, sprachlich zu schwierig und praktisch kaum einsetzbar, weil sie nicht auf einer bilingualen Grundlage entstanden sind. Ebenso mangelt es an differenzierten, möglichst zwei- oder mehrsprachig konzipierten Arbeitsblättern. Zu wünschen wäre Material für einen Unterricht, der auf Prinzipien der bilingualen Methodik basiert, begleitet von Arbeitsheften mit Angeboten zur Geschichte, Landeskunde, Musik und Kunst des Herkunftslands.

Die zeitliche Situierung des HSU (in der Schweiz)ist demotivierend. Nach dem Unterricht in der regulären Schule – und oft auch noch nach sportlichen oder sonstigen Aktivitäten – folgt als Letztes der HSU, irgendwann zwischen 17 und 20 Uhr. Wenn die Schüler/innen überhaupt kommen, geschieht dies besonders in der Oberstufe oft eher unter Druck der Eltern als aus freiem Willen. Die starke Heterogenität der Klassen (hinsichtlich Alter, sprachlicher Ressourcen etc.) wie auch die Diskontinuität des Unterrichts (bloß zwei Wochenstunden) bedeuten für die Lehrer/innen eine große Herausforderung und erschweren die Planung. Beispiel: In derselben Unterrichtsgruppe (Klasse) habe ich Schüler aller Altersstufen, vom Vorschulalter bis zur Oberstufe. So kurve ich als Lehrerin während des Unterrichts praktisch permanent «auf den Rollschuhen» zwischen den verschiedenen Alters- und Niveaugruppen herum. Da ich zugleich in verschiedenen Schulen und Gemeinden unterrichte, bin ich auch permanent «auf den Schienen», quasi als ewig Reisende.

Alle diese Probleme tragen dazu bei, dass der traditionelle herkunftssprachliche Unterricht oft geschwächt und ausgelaugt ist. Für eine Schüler/innengeneration, die in einer mehrsprachigen Umgebung und mit plurikulturellen Ressourcen aufwächst, ist er inhaltlich nicht adäquat und (durch seine Losgelöstheit vom übrigen Unterricht und Stundenplan) organisatorisch unattraktiv.

Für mich als Praktikerin wäre es dringend nötig, dass die Herkunfts- und Einwanderungsländer viel besser kooperieren würden. Es sollten gemeinsame Strategien erarbeitet und eine Institution geschaffen werden, die sich mit der Bewahrung der sprachlich-kulturellen Identität der Migrationskinder befasst. In gemeinsamer Arbeit von Fachleuten und Praktiker/innen aus beiden Ländern sollten organisatorische Verbesserungen und methodische Anpassungen der bestehenden Lehrpläne wie auch entsprechende Materialien erarbeitet werden. Es besteht ein dringender Bedarf an neuen Organisationsformen des Unterrichts, an einer dynamischeren Gestaltung der Arbeit und an dem Einsatz moderner Unterrichtsmittel und -medien. Neben der periodischen und konstanten Weiterbildung im Herkunfts- und Einwanderungsland ist es notwendig, gemeinsame Bildungsprojekte zu initiieren, z. B. Forschungsprojekte und Fachseminare. Bereits jetzt gibt es zwar vereinzelte Kooperationen, aber meistens bloß als Pilotprojekte oder in ungenügender und zu kurzfristiger Form.

Ich selber habe, nach der Vorbereitung im Herkunftsland, während der Arbeit immer wieder die «Geheimnisse» des herkunftssprachlichen Unterrichts entdeckt, habe neben der Arbeit gelernt und an zahlreichen Seminaren im Herkunftsland und in der Schweiz über die Problematik des HSU berichtet, habe mich weitergebildet, habe bilinguale Arbeitsblätter und -materialien hergestellt, habe an Pilotprojekten des HSU und der schweizerischen Schulen teilgenommen. Damit der HSU aber wirklich und nachhaltig an Qualität gewinnt, braucht es die vollständige Mobilisierung der Lehrer/innen und eine Zusammenarbeit aller Beteiligten im Umfeld dieses Unterrichts. Nicht zuletzt zählt dazu auch eine verstärkte Präsenz des HSU und seiner Probleme und Chancen in den Medien und im öffentlichen pädagogischen und schulbezogenen Diskurs.


2. Yergahem Belay: Drei große Herausforderungen

Yergahem Belay stammt aus Äthiopien. Sie lebt seit 1995 in London, wo sie seit 2001 HSU in der Sprache Tigrinya erteilt.

Ich begann im Jahre 2002 als Lehrerin für den äthiopischen HSU. Schon in den ersten drei Wochen sah ich mich mit folgenden hauptsächlichen Fragestellungen und Problembereichen konfrontiert:

Wie gehe ich mit den Erwartungen verschiedener Gruppen um (Schüler/innen, Eltern, Lehrer/innen der staatlichen Schule)? Um überhaupt mit dem Unterricht beginnen zu können, mussten wir mit den Schüler/innen Gespräche führen, sie in drei Gruppen einteilen und die Zuteilungen den Eltern kommunizieren. Dies war schwierig, da eine Zuteilung gemäß dem Alter der Schüler/innen keinen Sinn machte: Manche (auch jüngere) Schüler/innen konnten von zu Hause her recht gut Eritreisch, andere (auch ältere) nicht. Wir mussten also altersunabhängige Gruppen gemäß dem Stand in der Erstsprache bilden – was wiederum andere Probleme schuf.

Wie gehe ich methodisch-didaktisch vor? Angesichts der großen Altersheterogenität der Gruppen und der je nach Alter unterschiedlichen Lernstile musste ich sehr kreativ werden, um das Interesse aller Schüler/innen wachzuhalten. Bald merkte ich, dass sich am besten ein stark interaktives, die Schüler/innen aktivierendes Vorgehen bewährte.

Wie gehe ich mit den Herausforderungen hinsichtlich Schulbüchern und Materialien um? Seitens der äthiopischen Erziehungsbehörden standen mir keine Materialien für den Unterricht im Ausland zur Verfügung. Alleine und ohne weitere Mittel ein Programm zu entwickeln, das die interkulturellen Barrieren berücksichtigt und überwindet, war sehr anspruchsvoll. Am Anfang stützte ich mich auf äthiopische Schulbücher. Bald lernte ich meine Schüler/innen und ihren Hintergrund besser kennen und realisierte, dass ein für Äthiopien geeigneter Text für die Situation in England nicht passte. Etwas Neues war gefragt, etwas, das die Beziehung zwischen der äthiopischen und der englischen Kultur zum Thema machte. In der Folge schuf und schaffe ich selbst Materialien zum Thema «äthiopische Tradition und Kultur», um die Schüler/innen für Fragen ihrer kulturellen Identität und Werte zu sensibilisieren. Diese Arbeit ist sehr aufwendig – auch deshalb, weil der «Top-down-Ansatz», nach dem in Äthiopien gearbeitet wird, in England nicht funktioniert und weil viele bestehende Texte vom Inhalt her nicht passen. Ich war oft frustriert und bin froh, dass ich in den letzten Jahren das Internet als Quelle für Materialien kennen und nutzen lernte.


3. Hyrije Sheqiri: Mein momentan brennendstes Problem

Hyrije Sheqiri stammt aus Kosovo/Kosova. Sie lebt seit 1995 in Schweden, wo sie in Ronneby, Karlskrona und seit 2007 in Karlshamn für den albanischen HSU verantwortlich war bzw. ist. Der folgende Text ist der Schlussabschnitt ihres Berichts aus Kap. 1 B.2.

Das derzeit brennendste Problem für mich – und sicher auch für viele meiner Kolleginnen und Kollegen – ist die Teilnahme von möglichst vielen Schüler/innen am herkunftssprachlichen Unterricht. Der HSU erfüllt eine wichtige Funktion auch für den Wissenserwerb und Erfolg in der schwedischen Schule, woran die wissenschaftliche pädagogische Forschung keinen Zweifel lässt. Ich hoffe sehr, dass wir mit vermehrtem Engagement und mit einem geschärften Bewusstsein seitens der Eltern auch diese Hürde meistern werden. Die Teilnahme möglichst aller albanischen Schüler/innen am albanischen HSU, wie er integriert im schwedischen Schulsystem angeboten wird, hängt ja in der Tat fast ausschließlich von den Eltern ab – d. h. von deren Interesse, dass ihre Kinder ihre Muttersprache lernen, dass sie auf diesem Fundament auch in den anderen Fächern leichter lernen und dass sie gleichzeitig ihre bilinguale und bikulturelle Identität stärken. Wir haben es hier mit einem doppelten sprachlichen und kulturellen Nutzen zu tun: Als Individuen erweitern die HSU-Schüler/innen ihre persönlichen Kompetenzen und Werte. Dadurch werden sie aber nicht nur für sich selbst und ihre Familien wertvoller und kompetenter, sondern auch für die Gesellschaft und das Land, in dem sie leben, wie auch für ihr Herkunftsland selbst.

Ich bin überzeugt, dass auch diese meine Sorge (die zugleich die Sorge vieler anderer HSU-Lehrer/innen ist) mit dem großen Engagement und der Unterstützung der Eltern schon in naher Zukunft gegenstandslos wird.


4. Drei Biografien von HSU-Schülerinnen und -schülern

Gulcan (w., 8) lebt in England (Bericht der Lehrerin Zuleyha Toprak, London)

Gulcan wurde 2006 in London geboren. Beide Eltern sind türkisch. Sie hat eine ältere Schwester. Ihr Vater verließ die Familie, als Gulcan fünf Jahre alt war. Dies traf sie sehr hart, da sie eine enge Beziehung zu ihm hatte. Ihre Mutter ist eine junge Frau mit verschiedenen physischen und mentalen Behinderungen. Obwohl sie über zehn Jahre in England lebt, spricht sie kein Englisch. Die Mutter hat keinerlei Verwandte in England. Die Familie des Vaters wohnt zwar hier, unterstützt Gulcan oder ihre Schwester aber nicht.

Gulcans Mutter versucht, ihre Töchter in den Sommerferien in die Türkei zu bringen, damit sie dort etwas Liebe und Unterstützung von ihrer Familie erfahren. Gulcan gefallen diese Ferien und das Zusammensein mit den Großeltern, weil sie dort so lange draußen spielen darf, wie sie will. Den Flug in die Türkei bezahlen die Großeltern; andere Ferien sind aus finanziellen Gründen nicht möglich.

Gulcan wurde von ihrer Mutter in den HSU gebracht, weil sie im regulären Unterricht auffällig wurde und besondere Unterstützung benötigt. Laut der Mutter wurde sie in der Schule schikaniert – wegen ihres Übergewichts und weil sie langsamer als die anderen lernt. Sie hat nur wenige Freundinnen in der Staatsschule, aber mit einigen Kindern im HSU versteht sie sich sehr gut.

Ihre Hobbys sind Computerspiele, Fernsehen und Essen. Sie ist verrückt nach den «Littlest Pet Shop Toys» (Spielzeugtierchen für Kleinkinder), mit denen sie stundenlang spielen könnte. Sie kümmert sich rührend um sie und macht dabei einen entspannten Eindruck.

Aylin (w., 10) lebt in Deutschland

Mein Name ist Aylin. Ich bin 10 Jahre alt. In Moment lebe ich mit meiner Familie in Senden. Das ist eine kleine Stadt in der Nähe von Münster im Westen von Deutschland. Meine Hobbys sind Musik und Tanzen sowie Lesen. Außerdem gehe ich gerne ins Kino. Meine Freizeit verbringe ich hauptsächlich mit meinen Freundinnen, die in der Nachbarschaft leben. Ich habe vor allem deutsche und kurdische Freunde. Zudem habe ich noch einige Freunde aus der Türkei, aus Russland, Polen, Bosnien usw.

Meine Eltern sind aus Südostanatolien im kurdischen Gebiet der Türkei, sie sind Teil der kurdischen Volksgruppe. Dort lebten sie in einem kleinen Dorf namens Bahcin. Das Dorf gibt es immer noch, es liegt in der Nähe der Stadt Mardin. Wir gehören zur ezidischen Religionsgemeinschaft. Ich habe vier Geschwister und bin somit in einer Großfamilie aufgewachsen, was ich sehr schätze. Denn wir Geschwister halten immer zusammen. Meine Familie lebt seit über 20 Jahren in Deutschland. Die meisten Geschwister sind so wie ich in Deutschland geboren.

Ich bin in erster Linie mit der kurdischen und der deutschen Sprache aufgewachsen. Zu Hause spreche ich mit meinen Eltern kurdisch. Mit meinen Geschwistern spreche ich allerdings deutsch.

Behar (m., 17) lebt in Schweden

Ich heiße Behar und bin 17 Jahre alt. Ich bin in meiner Heimat Kosova geboren und aufgewachsen, bis ich zwei Monate vor meinem zehnten Geburtstag nach Schweden kam, wo ich jetzt lebe und in die erste Klasse des Gymnasiums gehe.

Das Leben in Kosova unterscheidet sich stark von dem in Schweden. In Kosova gibt es viel Armut; hier in Schweden lebt man reicher und problemloser. Auch die Schulen unterscheiden sich stark. In der schwedischen Schule kriegt man gratis ein Mittagessen samt Getränk, während man in Kosova sogar das Brötchen und den Saft bezahlen muss, was oft das ganze Essen darstellt. In Kosova bin ich vier Jahre zur Schule gegangen. Wir waren 45 Schüler und hatten nur eine einzige Lehrerin. Hier in Schweden sind wir bloß 25 Schüler und haben für jedes Fach einen eigenen Lehrer. Schwedisch und Englisch habe ich sehr schnell gelernt. Seit der siebten Klasse lerne ich auch Deutsch.

Ich wollte immer in Kosova bleiben, aber meine Eltern zogen hierher um, da musste ich halt mit. Wenn ich noch etwas größer bin und die Schule beendet habe, kehre ich vielleicht nach Kosova zurück, um dort zu arbeiten. Nach Schweden sind wir gekommen, um ein besseres Leben zu haben und der Armut zu entfliehen.

In Kosova ist die Disziplin viel besser, weil man dort Respekt vor den Lehrern und Lehrerinnen hat. Hier in Schweden gibt es viele eingebildete Schüler, die sich alles herausnehmen und nicht auf die Lehrer hören. In den Nachrichten wurde denn auch gemeldet, dass die Qualität des Unterrichts hier sinkt. Der Unterricht und die Schulen in Kosova sind viel besser, bloß hat der Staat nicht viel Geld, das er in die Schulen investieren kann.

Wenn ich einmal Kinder habe, werde ich nicht zulassen, dass sie die albanische Sprache und Kultur vergessen. Ich finde es verrückt, wenn ein albanisches Kind nach Kosova geht und nicht mehr albanisch sprechen kann. Das wird meinen Kindern sicher nicht passieren!


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