Ingrid Gogolin


Vorbemerkung

In den Beiträgen zu diesem Handbuch werden an vielen Stellen und auf die verschiedensten Weise Argumente und Beispiele für einen guten herkunftssprachlichen Unterricht vorgestellt. Diese betreffen einerseits Rahmenbedingungen guten Unterrichts, also etwa seine Verortung im Bildungssystem, die materielle Ausstattung oder die Qualifikation der Unterrichtenden. Sie betreffen zum anderen Inhalte und Prozessmerkmale des Unterrichts, also Prinzipien guter Unterrichtsgestaltung. Wenn an all diesen Stellen die guten Ideen realisiert werden könnten, die in diesem Handbuch zusammengetragen wurden, so wäre das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit ein optimaler herkunftssprachlicher Unterricht:

Es würde sich um einen Unterricht handeln, der seinen selbstverständlichen Platz im Bildungssystem einnimmt und der zum Erreichen allseits anerkannter Bildungsziele beiträgt. Das in diesem Unterricht Gelernte besäße allgemeinen Bildungswert. Die unterrichtenden Personen wären bestens ausgebildet und weiterqualifiziert. Sie wären allen anderen Lehrpersonen formal gleichgestellt – mit gleichen Rechten, gleichen Pflichten. Da es herkunftssprachlichen Unterricht im Sinne dieses Handbuchs nur im Kontext sprachlich und kulturell heterogener Einwanderungsgesellschaften gibt, orientieren sich die Ziele des Unterrichts und die Praxis der Unterrichtenden daran, dass die Schülerinnen und Schüler an diejenigen sprachlichen Fähigkeiten herangeführt werden, die sie für ein selbstbestimmtes und verantwortliches, gutes Leben in ihrer sprachlich komplexen, heterogenen und rasch sich wandelnden Umwelt benötigen. Hier reiht sich der herkunftssprachliche Unterricht ein in die Reihe der Sprachunterrichte, die in einem Bildungssystem angeboten werden – er ist genuiner, gleichberechtigter, aber auch dem gleichen allgemeinen Ziel verpflichteter Unterricht. Und er wird nach den Prinzipien «gut gemacht», die Andreas und Tuyet Helmke in Kapitel 3 dieses Handbuchs beschreiben.

Einige Aspekte meines Bilds vom optimalen herkunftssprachlichen Unterricht möchte ich nachfolgend erläutern.


1. Optimaler HSU fördert die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit

Die Fragen nach der Funktion, dem Stellenwert und der Gestalt des optimalen herkunftssprachlichen Unterrichts sind nur im größeren Rahmen von Überlegungen darüber zu beantworten, auf welche gesellschaftlichen, ökonomischen, technischen und kulturellen Herausforderungen die Schule und außerschulische Bildungsangebote im 21. Jahrhundert treffen – denn schließlich gehört es zu den Kernaufgaben (nicht nur) schulischer Bildung, Kindern und Jugendlichen Zugang zu den Fähigkeiten zu verschaffen, die sie benötigen, um unter den Bedingungen der absehbaren Zukunft selbstbestimmt und verantwortlich zu leben. Globalisierung, internationale Mobilität und Migration sind bedeutende Herausforderungen der Gegenwart und der vorhersehbaren Zukunft, denen sich Bildungssysteme stellen müssen. Diese Entwicklungen sind nicht mehr rückgängig zu machen – im Gegenteil: Es ist damit zu rechnen, dass sie sich noch verstärken. Folge dieser Entwicklungen ist eine wachsende soziale und ökonomische, sprachliche und kulturelle Heterogenität in der alltäglichen Umgebung der Menschen – beinahe überall auf der Welt. Zu den Fähigkeiten, an die Bildungssysteme im 21. Jahrhundert heranführen müssen, um unter diesen Bedingungen Verständigung und Teilhabe zu ermöglichen, gehört diejenige zur «global communication» (Griffin et al., 2012). Übersetzen kann man das in: Die Kompetenz, sich in Konstellationen der Sprachverschiedenheit, oft auch der sprachlichen Ungewissheit kompetent zu verhalten – oder, kurz gefasst: die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit.

Die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit besteht im – mehr oder weniger weitgehenden – Verfügen über mehr als eine Sprache. Zugleich aber besteht sie darin, dass man sich in Situationen von Sprachverschiedenheit zu verständigen weiß. Zur Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit gehören also sprachliche Sensibilität und Flexibilität und die Kompetenz, sich Mittel zur Verständigung auch dann zu verschaffen, wenn man die Sprache(n) selber nicht oder nur rudimentär beherrscht, in der (oder denen) gerade kommuniziert wird.

Es ist absehbar, dass Konstellationen der Mehrsprachigkeit in Zukunft zunehmend den sprachlichen Alltag bestimmen werden. Dies gilt insbesondere für städtische Regionen. Über die sprachliche Zusammensetzung der Bevölkerungen in den europäischen Ländern haben wir wenig gesicherte Kenntnisse, es gibt kaum zuverlässige Daten darüber. Anders als in einigen «klassischen» Einwanderungsländern (wie z. B. den USA, Kanada oder Australien) werden in Europa keine entsprechenden Sprachstatistiken geführt. Einzelne Untersuchungen zeigen aber, dass das Mit- und Nebeneinander von verschiedenen Sprachen in europäischen Großstädten sich kaum mehr von dem unterscheidet, was traditionell in den klassischen Einwanderungsländern anzutreffen ist (Gogolin, 2010). Es können leicht mehrere hundert Sprachen sein, in denen die Menschen einer Großstadt leben.

Weil es also jederzeit und allerorten sein kann, dass man der Vielfalt und Verschiedenheit von Sprachen begegnet, gehört zur Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit auch ein entspanntes, gelassenes Verhältnis zu dieser sprachlichen Lage. Mehrsprachigkeit ist unsere Gegenwart und Zukunft, und je mehr wir das akzeptieren (oder im besseren Falle: gut leiden mögen), desto leichter wird es uns fallen, uns darin zurechtzufinden.

Die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit ist es, die Schulen und andere Bildungseinrichtungen den ihnen anvertrauten jungen Menschen ermöglichen müssen, damit sie die sprachlichen Anforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen können. Diese Herausforderung stellt sich auch den Bildungseinrichtungen, die ihren Beitrag zur Sprachbildung neben dem offiziellen Schulsystem leisten. Und sie stellt sich an jeden sprachlichen Unterricht: den der allgemeinen Schul- und Unterrichtssprache ebenso wie den fremdsprachlichen Unterricht und den herkunftssprachlichen Unterricht.

Ein optimaler herkunftssprachlicher Unterricht trägt dazu bei, dass die Schülerinnen und Schüler die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit erlangen.


2. Mehrsprachigkeit als Ressource

Kinder und Jugendliche, die von klein auf alltäglich aktiv in zwei oder mehr Sprachen leben, bringen sehr gute Voraussetzungen dafür mit, die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit herauszubilden. Zu diesen guten Voraussetzungen gehört es, dass ein Aufwachsen in zwei oder mehr Sprachen die grundlegenden Fähigkeiten zur weiteren Sprachaneignung wunderbar trainiert. Zwei- oder mehrsprachig aufwachsende Kinder sind insbesondere bei der Entwicklung von Sprachbewusstheit gegenüber einsprachig aufwachsenden im Vorteil. Sie können z. B. früher als einsprachige zwischen der Form, in der etwas gesagt wird, und dem Inhalt einer Äußerung unterscheiden. Dies ist eine besondere geistige Leistung, die durch das Heranwachsen in zwei oder mehr Sprachen unterstützt wird. Trainiert werden also kognitive Fähigkeiten, zu denen ein Wissen über Sprache und ihre Funktionsweise ebenso gehört wie die Sensibilität für Funktionen und Wirkungen von unterschiedlichen Ausdrucksweisen und die Fähigkeit, sich für die passende Ausdrucksmöglichkeit zu entscheiden, wenn mehrere zur Verfügung stehen. Solche Fähigkeiten werden «metasprachliche Fähigkeiten» genannt.

In wissenschaftlichen Untersuchungen konnte gezeigt werden, dass zwei- oder mehrsprachig heranwachsende Kinder diese Vorteile mitbringen, wenn sie in die Bildungsinstitutionen eintreten. Die vorliegenden Studien haben sich vor allem mit Kindern zwischen dem vierten und sechsten oder siebten Lebensjahr befasst (Bialystok & Poarch, 2014). Für das Lernen in der Schule ist besonders bedeutsam, dass damit Möglichkeiten zum positiven Transfer einhergehen – also der Übertragung des einmal in einer Sprache erworbenen grundlegenden Wissens auf eine andere Sprache. Ein Kind muss nicht für jede Sprache immer wieder neu lernen, dass etwas Vergangenes anders geschildert wird als etwas Zukünftiges. Neu zu lernen ist nur die jeweils andere Oberfläche, in der Vergangenheit oder Zukunft in den unterschiedlichen Sprachen ausgedrückt werden.

Mehrsprachiges Aufwachsen und Leben bringen Vorteile für die geistige Entwicklung von Kindern und gute Voraussetzungen für weiteres – nicht nur sprachliches – Lernen mit sich. In jedem Sprachunterricht sollte danach gestrebt werden, diese guten Voraussetzungen aufzugreifen und zu ihrer Weiterentwicklung beizutragen.

Es ist keineswegs sichergestellt, dass Kinder diese guten Voraussetzungen für das sprachliche Lernen und das Lernen überhaupt über ihre Bildungsbiografie hinweg weiterentwickeln. Vielmehr müssten sie durch den Unterricht in- oder außerhalb der Schule darin bestärkt werden, sich dieser Fähigkeiten aktiv zu bedienen, und sie müssten eine systematische Unterstützung bei deren Ausbau erhalten. Dies erfordert einen ressourcenorientierten Blick auf ihr mitgebrachtes zwei- oder mehrsprachiges Können und Wissen. Dass dieses Können und Wissen nicht «perfekt» ist, ist gerade im Kontext des herkunftssprachlichen Unterrichts zu erwarten. Die aus der Lebenswelt mitgebrachten Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sind sehr unterschiedlich ausgeprägt, je nach den Lebensumständen, unter denen sie erworben werden. Diese Heterogenität wird in verschiedenen Kapiteln dieses Handbuchs eindringlich dargestellt, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie eine Erschwernis für das Unterrichten bedeutet. Dennoch handelt es sich um das Fundament, auf dem weiteres Lernen und sprachliche Weiterentwicklung aufbauen müssen.

In einem optimalen herkunftssprachlichen Unterricht werden die Schülerinnen und Schüler deshalb nicht mit Blick auf ihre Defizite betrachtet, also mit dem Hauptaugenmerk darauf, was sie nicht können oder falsch machen. Vielmehr wird auf die schon vorhandenen Fähigkeiten und Erfahrungen besonders geachtet. Das Lern-Angebot wird so gestaltet, dass die Lernenden am mitgebrachten (nicht nur herkunfts-)sprachlichen Können und Wissen andocken können und dass ihnen von da aus der Weg zum nächsten Lernschritt eröffnet wird. Dieser Grundsatz, der an die entwicklungspsychologischen Erkenntnissen von Lew Wygotski anschließt (Wygotski, 1964), erlaubt es, dass die Schülerinnen und Schüler auf ein immer festeres Fundament für ihr weiteres Lernen bauen können. Die Wertschätzung ihres Könnens und Wissens eröffnet ihnen zugleich die Möglichkeit, sich als kompetente Lernerinnen und Lerner zu erfahren – und das ist eine besonders wichtige Voraussetzung dafür, dass Lernen gelingt.

Im optimalen herkunftssprachlichen Unterricht werden die mitgebrachten sprachlichen Erfahrungen und Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler als Ressource für das weitere Lernen genutzt, und es wird dafür gesorgt, dass sie sich als kompetente Lernende erfahren.

Die lebensweltlich angeeigneten metasprachlichen Fähigkeiten gehören zu den besonderen Ressourcen von Kindern oder Jugendlichen, die in zwei oder mehr Sprachen leben. Damit sie aber nicht stagnieren oder gar verkümmern, sondern möglichst weiterentwickelt werden, bedarf es der kundigen Anleitung durch den Unterricht. Dabei geht es darum zu lernen, diese Fähigkeiten zunehmend bewusst und strategisch einzusetzen – und zwar für Zwecke der Sprachaneignung ebenso wie in der alltäglichen Sprachpraxis. Die Unterstützung dieser Fähigkeiten geschieht, indem metasprachliche Praxis explizit in den Unterrichtsablauf einbezogen wird. Dabei geht es in erster Linie darum, dass die Schülerinnen und Schüler systematisch zum Vergleichen zwischen den Sprachen und Varietäten angehalten werden, in denen sie leben. Dies kann auf allen möglichen sprachlichen Ebenen passieren: auf der Ebene der Lautung, z. B. der Beziehung zwischen Laut- und Schriftzeichen (zur Unterstützung von orthografischem Lernen), auf der Ebene der grammatischen Bauprinzipien der Sprachen (zur Unterstützung der morpho-syntaktischen Entwicklung), auf der Ebene der mitschwingenden Bedeutungen von Wörtern oder Ausdrucksweisen (zur Unterstützung der pragmatischen Entwicklung und metaphorischer Fähigkeiten) oder auf der Ebene der sprachenbegleitenden Mimik und der körpersprachlichen Mittel (denn auch hier sind die Bedeutungen keineswegs universell, sondern an sprachlich-kulturelle Traditionen, Gewohnheiten gebunden). Die systematische Einbeziehung sprachenvergleichenden Lernens in den herkunftssprachlichen Unterricht ist ein für diesen Unterricht spezifischer Teil der kognitiven Aktivierung, die den Kern der Lernwirksamkeit ausmacht (vgl. Helmke und Helmke in diesem Band, Kap. 3 A.2.2).

Im optimalen herkunftssprachlichen Unterricht wird sprachenvergleichendes Lernen systematisch als Mittel der kognitiven Aktivierung eingesetzt. Die Grundlage dafür ist das aus lebensweltlicher Erfahrung mitgebrachte eigene sprachliche Können und Wissen der Schülerinnen und Schüler.


3. Herkunftssprachlicher Unterricht als Element Durchgängiger Sprachbildung

Ein herkunftssprachlicher Unterricht, der daran mitwirkt, dass Schülerinnen und Schüler die sprachlichen Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert erreichen können, ist ohne jede Frage ein offiziell und öffentlich anerkannter Teil des Bildungssystems und in dieses inte- griert. Diese Integration kann in durchaus unterschiedlichen organisatorischen Formen geschehen – es wird bei der Fülle der Sprachen, die potenziell durch Schülerinnen und Schüler in einem Schulhaus präsent sein können, nicht immer möglich sein, in einer einzigen Organisationsform auf den Bedarf zu reagieren. Vielmehr gilt es, kreative Möglichkeiten der Einbindung in das reguläre Schulleben zu schaffen und ihnen Legitimität zu verleihen.

Im Kontext des Modellprogramms «Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig)» wurde ein Rahmenmodell entwickelt, das den Weg für eine solche Integration weisen kann: das Modell der Durchgängigen Sprachbildung (Gogolin et al., 2011a). Die Entwicklung des Modells folgte der Intention, den Weg zu einer «neuen Kultur der Sprachbildung» aufzuzeigen, mit der auf die Herausforderungen sprachlicher und kultureller Vielfalt umsichtig reagiert werden kann.

Der Begriff der Sprachbildung wurde gewählt, um deutlich zu machen, dass es nicht darum gehen soll, gelegentliche und vereinzelte Maßnahmen zu ergreifen wie beispielsweise ein einzelnes Unterrichtsprojekt im Schuljahr. Vielmehr geht es darum, dass der Unterricht insgesamt sprachbildend gestaltet wird und dass ein sprachaufmerksames, förderliches Klima im gesamten Schulhaus spürbar ist. Reagiert wird damit auf die Erkenntnis, dass sprachliche Verarbeitung ein grundlegendes Element so gut wie jeden Bildungsprozesses ist. Lerngegenstände werden überwiegend sprachlich dargeboten – ganz gleich, um welchen Unterricht es sich handelt. Die Aneignung von Wissen wird überwiegend sprachlich prozessiert. Und schließlich findet die Überprüfung und Beurteilung von Erfolgen der Aneignung ganz überwiegend sprachbasiert statt. Mit dem Modell Durchgängiger Sprachbildung wird auf diese Dimension eines jeden Bildungsprozesses aufmerksam gemacht und der Anspruch erhoben, dass der Unterricht das, was von Lernenden an sprachlichem Können und Wissen verlangt wird, auch bereitstellt.

Der Begriff der Durchgängigkeit bezieht sich auf drei Dimensionen des Modells, die in der Grafik angedeutet sind:


  1. Die bildungsbiografische Dimension
    Sie drückt aus, dass die Anforderungen an sprachliches Können und Wissen sich über die gesamte Bildungsbiografie hinweg verändern. Das sprachliche Repertoire, das erforderlich ist, um ein surrealistisches Gedicht von Orhan Veli zu durchdringen, kann im sprachlichen Anfangsunterricht nicht sinnvoll vermittelt werden – es ist vielmehr dann zur Sprache zu bringen, wenn sich die Lernenden mit dieser Aufgabe befassen.

  1. Die kooperative Dimension
    Hiermit ist darauf angespielt, dass es nicht Aufgabe «eines» Unterrichts ist, das sprachliche Wissen und Können bereitzustellen, das Kinder und Jugendliche zur Bewältigung der Bildungsanforderungen über ihre Bildungsbiografie hinweg benötigen. Vielmehr trägt jeder Unterricht auf seine spezifische, den Lerngegenständen angemessene Weise dazu bei. Je mehr Einigkeit zwischen den Beteiligten über die Wege und Ziele und ihren jeweiligen Anteil an der sprachlichen Bildung besteht, desto höher ist die Chance, dass für die Lernenden ein erfolgreicher Aneignungsprozess zustande kommt. Dies begründet das Postulat der Kooperation, denn wenn alle Beteiligten gemeinsam, aber arbeitsteilig zur Sprachbildung beitragen, kann ein effizienter Bildungsprozess gestaltet werden.

  1. Die Sprachentwicklungsdimension
    Hiermit ist angesprochen, dass es Aufgabe des Unterrichts ist, den Lernenden die Brücken zwischen den aus lebensweltlicher, alltagssprachlicher Sprachpraxis mitgebrachten Erfahrungen und den sprachlichen Anforderungen zu bauen, die für einen erfolgreichen Bildungsprozess bewältigt werden müssen. Lebensweltliche Sprachpraxis vollzieht sich zu großen Teilen im Mündlichen, oft in dialektalen oder sozialen Varianten einer Sprache. Diese sind es also, die Lehrende als Bildungsvoraussetzungen für ihren Unterricht erwarten dürfen. Bildungssprachliche Anforderungen hingegen folgen zumeist den Bauprinzipien des schriftlichen Sprachgebrauchs. Die Vermittlung der Kunst des Lesens und Schreibens aber, die Eröffnung eines Zugangs zur Welt der Schrift, ist die explizite Aufgabe des Bildungssystems. Hierauf bezieht sich die Anforderung an Durchgängige Sprachbildung in dieser Dimension: die Brücken zu bauen zwischen den sprachlichen Erfahrungen, die außerhalb des Bildungssystems gemacht werden, und jenen Anforderungen, die das System selbst stellt – vom Alltagssprachgebrauch zur Bildungssprache; von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit zu bildungssprachlicher Mehrsprachigkeit (siehe hierzu auch Kap. 8 A in diesem Band).

Es gibt kein Rezeptbuch dafür, wie das Modell der Durchgängigen Sprachbildung in die Praxis umzusetzen ist. Vielmehr ist es erforderlich, dass eine Anpassung an die Bedingungen erfolgt, unter denen eine Bildungseinrichtung arbeitet. Bezogen auf den herkunftssprachlichen Unterricht liegt auf der Hand, dass in einer Schulgemeinschaft, in der Kinder mit wenigen gemeinsamen Herkunftssprachen unterrichtet werden, anders gearbeitet werden muss als in Schulen, die von Kindern mit zwanzig, dreißig verschiedenen Herkunftssprachen besucht werden. Erfahrungen mit der Entwicklung von Bildungsangeboten, die auf die jeweilige Lage reagieren, wurden im Kontext des FörMig-Modellprogramms gesammelt und dokumentiert – sie können sicher nicht «nachgekocht» werden, aber hilfreiche Tipps und Hinweise bieten sie allemal (vgl. hierzu z. B. Gogolin et al., 2011b, oder die vielfältigen Anregungen auf der Website www.foermig.uni-hamburg.de).


4. Beispiele für optimalen herkunftssprachlichen Unterricht

Zum Abschluss meines Beitrags sollen zwei Beispiele vorgestellt werden, in denen Muster eines optimalen herkunftssprachlichen Unterrichts nach den beschriebenen Vorstellungen erkennbar sind. Beide Beispiele entstammen der realen Praxis. Sie sind also zugleich erprobt und utopisch.

Alphabetisierung im Reissverschlussprinzip

Stellen wir uns einen optimalen herkunftssprachlichen Unterricht in einer Grundschule vor. Dieser Unterricht ist Teil des schulischen Alltags – er findet also im Rahmen des regulären Curriculums statt und die Lehrkräfte haben Gelegenheit, sich miteinander abzustimmen, um die Unterrichtseinheiten der nächsten Wochen kooperativ zu gestalten. Ziel des sprachlichen Unterrichts ist die Einführung in die ersten Schriftzeichen. Zweck der Zusammenarbeit zwischen den Lehrkräften ist es, den Kindern Transferstrategien beim Schreibenlernen zu eröffnen. Stellen wir uns vor, in der Schulgemeinschaft gäbe es Kinder mit verschiedenen Herkunftssprachen, die in unterschiedlicher Weise transkribiert werden.

In dieser Konstellation empfiehlt es sich, nach dem Reissverschlussprinzip der Alphabetisierung und des herkunftssprachlichen Unterrichts vorzugehen, wie es im Beitrag von Hans Reich (Kap. 5 A in diesem Band) beschrieben wurde: In der für alle Kinder gemeinsamen Unterrichtssprache (für unser Beispiel: der deutschen Sprache) wird die Beziehung zwischen den jeweils zu erlernenden Laut- und Schriftzeichen zunächst eingeführt; in den verschiedenen Herkunftssprachen werden die bekannten Zeichen aufgegriffen und mit den Formen der Verschriftung in Beziehung gesetzt, die für die jeweilige Sprache angemessen sind.

Nach diesem Prinzip des Ineinandergreifens von Lernangeboten im Deutschen und in den Herkunftssprachen wird der Unterricht über die gesamte Grundschulzeit hinweg gestaltet, was sich beispielsweise darin ausdrückt, dass die Kinder einen bildungsrelevanten Basiswortschatz in beiden Sprachen vergleichend angeboten bekommen, dass sie literarischen Genres im Vergleich begegnen oder dass sie die Funktionen syntaktischer Phänomene als unterschiedliche Bauprinzipien der jeweiligen Sprache vergleichend erfahren. Auf diese Weise wird für jede der beteiligten Sprachen ein spezifischer Lernraum eröffnet, aber die kognitive Aktivierung im Unterricht vollzieht sich nach einem gemeinsamen Prinzip, das den Kindern beim Ausbau zielführender Strategien der Sprachaneignung und des Einsatzes von sprachlichen Mitteln hilft.

Herkunftssprachlicher Unterricht als Türöffner für Durchgängige Sprachbildung

Die Kinder und Jugendlichen, die den herkunftssprachlichen Unterricht besuchen, besitzen das Privileg, dass sie in zwei oder mehr Sprachen leben. Ein Anliegen des herkunftssprachlichen Unterrichts sollte darin bestehen, die Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden auch an diesem Privileg teilhaben zu lassen. Dies kann geschehen, indem gemeinsame Aktivitäten initiiert werden, die dabei mitwirken, die Augen für Mehrsprachigkeit und ihre Vorzüge zu öffnen. Ein Beispiel hierfür stammt aus einem Gymnasium in Sachsen – einem deutschen Bundesland mit relativ geringer Zuwanderung, das am Modellprogramm FörMig beteiligt war. An der Beispielschule selbst wird herkunftssprachlicher Unterricht in Russisch angeboten; aber es sind durchaus auch Schülerinnen und Schüler anderer Herkunftssprachen dort vertreten. Die Schule präsentiert mit Stolz ihr «Mehrsprachigkeitsprofil». Eine ritualisierte Aktivität dafür ist es, dass zu jedem Schuljahresbeginn die sprachlichen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler erhoben werden, die in die neuen 5. Schuljahre eintreten (also die erste Klasse des Gymnasiums). Hier arbeiten die Lehrkräfte des Deutschunterrichts und des herkunftssprachlichen Unterrichts zusammen. Die Erhebung erfolgt mit Hilfe der von Ursula Neumann entworfenen «Sprachenporträts»: Umrissfiguren eines Mädchen oder eines Jungen, in die die Kinder mit Farben die Sprachen, die sie «haben», hineinzeichnen (Gogolin & Neumann,1991); vgl. die untenstehende Abbildung.

 

Diese Porträts dienen an unserer sächsischen Beispielschule zum einen der Fortschreibung der «Sprachenbestandsaufnahme», die die ganze Schule regelmäßig für sich betreibt. Sie dienen aber zugleich als Grundlage für die Thematisierung des sprachlichen Selbstverständnisses und die Förderung der Sprachbewusstheit mit den Kindern im Unterricht. Dies kann z. B. durch die gemeinsame Arbeit des herkunftssprachlichen Unterrichts, des Deutschunterrichts und des Fremdsprachenunterrichts an Sprachenportfolios geschehen, in denen die Entwicklung der Mehrsprachigkeit eines jeden Kindes festgehalten wird (Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2010).

Es sind solche Brückenschläge zwischen der sprachlichen Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen, ihrer durch den Unterricht geförderten mehrsprachigen Entwicklung und den Beiträgen zu einer «neuen Kultur der Sprachbildung», die dazu beitragen, den herkunftssprachlichen Unterricht in der multilingualen Lebenswelt zu optimieren.


Literaturhinweise

Bialystok, Ellen; Gregory Poarch (2014): Language Experience Changes Language and Cognitive Ability. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 17 (3), S. 433–446.

Bildungsdirektion des Kantons Zürich (Hrsg.) (2010): Unterrichtsmaterialien und -ideen für die Arbeit mit dem Europäischen Sprachenportfolio. Unterstützungsmaterialien zur Einführung des Europäischen Sprachenportfolios ESP (Portfolino, ESP I, ESP II). Zürich.

Gogolin, Ingrid (2010): Stichwort. Mehrsprachigkeit. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 13 (4), S. 529–547.

Gogolin, Ingrid; Ursula Neumann (1991): Sprache – Govor – Lingua – Language. Sprachliches Handeln in der Grundschule. Die Grundschulzeitschrift, 5 (43), S. 6–13.

Gogolin, Ingrid; Inci Dirim; Thorsten Klinger;
Imke Lange; Drorit Lengyel; Ute Michel, et al. (2011a): Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (FörMig). Bilanz und Perspektiven eines Modellprogramms. Münster: Waxmann.

Gogolin, Ingrid; Imke Lange; Britta Hawighorst; Christiane Bainski; Andreas Heintze; Sabine Rutten; Wiebke Saalmann, (2011b): Durchgängige Sprachbildung. Qualitätsmerkmale für den Unter- richt. Münster: Waxmann.

Griffin, Patrick; Barry McGaw; Esther Care (eds.) (2012): Assessment and Teaching of 21st Century Skills. Amsterdam: Springer.
Wygotski, Lew Semjonowitsch (1964): Denken und Sprechen. (Übersetzung der russischen Original- ausgabe von 1934 durch Gerhard Sewekow.) Berlin: Akademie-Verlag.


Inhaltsverzeichnis