Basil Schader, Markus Truniger


1. Einleitung; zum Begriff «HSU»

Als herkunftssprachlichen Unterricht (HSU) bezeichnet man den fakultativen Ergänzungsunterricht, der in vielen Einwanderungsländern für Schüler/innen mit Migrationshintergrund in deren Herkunfts- oder Erstsprache angeboten wird. Je nach Land und Region wird der HSU im deutschsprachigen Raum auch muttersprachlicher Unterricht genannt (so z. B. in Österreich oder in Nordrhein-Westfalen), oder Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK; so in der Deutschschweiz). Im französischen Sprachraum spricht man von ELCO (enseignement de langue et culture d‘origine), im englischen von supplementary schools.

«Herkunftssprachlich» bezieht sich auf die Herkunftssprache der Schüler/innen oder ihrer Eltern bzw. Großeltern und meint die in der Familie (bzw. mit den Eltern) hauptsächlich oder teilweise gesprochene Sprache. «Ergänzungsunterricht» bedeutet, dass der HSU ergänzend oder zusätzlich zum regulären Unterricht stattfindet.

Auf Ziele und Begründungen des HSU gehen wir unten näher ein; ganz summarisch sind zu nennen: die Stärkung in der Herkunftssprache, der Erwerb von Kenntnissen zur Herkunftskultur und die Unterstützung bei den Integrations- und Orientierungsprozessen am Wohnort und im Land, in dem die Familien wohnen.

Die Lehrer/innen des HSU sind native speakers, d. h. sie sprechen die betreffende Sprache als Erst- oder Muttersprache. Zum überwiegenden Teil handelt es sich um ausgebildete Lehrkräfte; die meisten von ihnen haben ihre Ausbildung im Herkunftsland absolviert.

Zeitlich wird der HSU meist in einem Block von zwei (selten drei oder vier) Lektionen pro Woche angeboten und in den regulären öffentlichen Schulen unterrichtet. Oft finden sich in der gleichen HSU-Klasse Schüler/innen unterschiedlichen Alters und von zwei oder drei Schulstufen (Kindergarten, Primar- und Sekundarstufe I).

Als Rahmeninstrument oder gesetzliche Grundla- ge haben manche Herkunftsländer (z. B. Kosova und Serbien) einen spezifischen HSU-Lehrplan erarbeitet. Spezifische HSU-Lehrpläne haben aber auch manche Einwanderungsländer – in Zusammenarbeit mit den HSU-Anbietern – entwickelt. In der Schweiz ist dies z. B. der im Kanton Zürich entstandene «Rahmenlehrplan für Heimatliche Sprache und Kultur», der in vielen Kantonen der Deutschschweiz verwendet wird.

Spezifische Unterrichtsmaterialien (Lehrbücher etc.) für den HSU haben nur wenige Herkunftsländer entwickelt. Die Lehrer/innen der anderen Sprachen und Nationen stellen ihre Materialien meist in aufwendiger Arbeit selber her, wobei sie u. a. auf Texte aus Schulbüchern aus dem Herkunftsland zurückgreifen, die sie vereinfachen und anpassen.

Das Angebot an HSU ist in erster Linie von den Interessen, den Initiativen und den Leistungen der Eltern, der Sprachgemeinschaften und ihrer Herkunftsländer abhängig. In der Art der Trägerschaft gibt es eine große Bandbreite. Sie reicht von kleinen lokalen Elternvereinen über starke, landesweit wirkende Eltern- und Lehrerverbände, mehr oder weniger kräftig unterstützende Herkunftsländer, voll finanzierende und organisierende Herkunftsländer (bzw. deren Botschaften und Konsulate) bis hin zu Bildungssystemen der Einwanderungsländer, die HSU in Kooperation oder in Eigenregie anbieten.

Viele rechtliche, organisatorische und administrative Regelungen unterscheiden sich nicht nur von Land zu Land, sondern auch innerhalb der Länder von Bundesland zu Bundesland oder von Kanton zu Kanton. Dies betrifft u. a. die Frage, wer als Anbieter des HSU einer Sprachgruppe zugelassen wird (z. B. Konsulat oder/und private Trägerschaft), die Integration des HSU ins reguläre Schulwesen, die Kooperation zwischen HSU und Regelschule, die Anstellung und Entlöhnung der HSU-Lehrer/innen und deren Weiterbildungsmöglichkeiten. Auf einen Teil dieser Fragen geht das vorliegende Kapitel ein, andere Aspekte werden in nachfolgenden Kapiteln behandelt.

2. Die Ziele des HSU

Vergleicht man aktuelle Dokumente zum HSU (Rahmenlehrpläne, Reglemente, Informationen und Empfehlungen für Eltern etc., siehe die Bibliografie), werden dort immer wieder folgende Begründungen, Aufgaben und Ziele des herkunftssprachlichen Unterrichts genannt:


  • Förderung der Schüler/innen in ihrer Herkunftssprache
    Für viele Schüler/innen mit Migrationshintergrund ist die Sprache des Einwanderungslandes (die sie in der Umgebung verwenden und in der sie im Regelunterricht systematisch gefördert werden) zur starken Sprache geworden.
    Ihre Herkunftssprache beherrschen vor allem solche aus bildungsferneren Familien oft nur im mündlichen Register der Alltagssprache und oft nur in einer dialektalen Form. Ohne literale Förderung im HSU würden die meisten von ihnen über kurz oder lang zu Analphabet/innen in ihrer Erstsprache werden und den Bezug zu deren Schriftkultur verlieren. Weitere wichtige Bereiche der Erstsprachförderung sind u. a. die Einführung in die spezifischen Grapheme oder in die Schrift der Herkunftssprache, der Ausbau des Wortschatzes, grammatikalische Sicherheit und Begegnungen mit der Literatur des Herkunftslandes.

  • Entwicklung und Festigung der Zwei- bzw. Mehrsprachigkeit
    Dieses Ziel ist eng mit dem obigen verbunden. Mehrsprachigkeit ist eine persönliche, soziale, kulturelle, arbeitsmarktbezogene und gesellschaftliche Ressource, die gepflegt werden muss. Angesprochen sind hier u. a. Lernanlässe im HSU, bei denen der Wortschatz in der Erstsprache systematisch aufgebaut wird, bei denen Sprachvergleiche angestellt werden oder bei denen die Erst- und die Zweitsprache bewusst vernetzt werden.

  • Auf- und Ausbau von Wissen über die Herkunftskultur und das Herkunftsland bzw. die Herkunftsländer
    Gemeint sind altersgerecht vermittelte Kenntnisse zu Geografie, Geschichte, Kultur (Literatur, Malerei, Musik etc.) des Herkunftslandes oder (z. B. im Falle des arabischen HSU) der Herkunftsländer. Gut möglich ist dabei die Nutzung von Medien wie Internet, Skype etc., mittels derer die Schüler/innen selber Recherchen anstellen können. Wichtig sind Bezüge zum Land, in dem die Schüler/innen jetzt leben und mit dem sie ja oft vertrauter sind als mit dem Herkunftsland (Vergleiche; Ähnliches und Unterschiedliches; Gründe dafür).

  • Unterstützung im Prozess der Integration und Orientierung in der Schule des Einwanderungslandes
    Dies betrifft einerseits die Tatsache, dass gerade Schüler/innen und Eltern aus bildungsferneren Familien stark davon profitieren können, wenn sie im HSU durch eine Person aus ihrer eigenen Herkunftskultur nicht nur Fachwissen, sondern auch Lernstrategien, Motivation, Tipps und Informationen erhalten. Andererseits ist hier die begründete Annahme angesprochen, dass «das sichere Beherrschen der Mutter- oder Erstsprache […] nicht nur ein Wert an sich [ist], sondern auch beim Erlernen jeder weiteren Sprache hilfreich [ist]» (Landesinstitut Hamburg). Dass der Besuch des HSU generell einen positiven Effekt auf den Schulerfolg im Einwanderungsland hat, ist hoch wahrscheinlich und hängt mit den beiden genannten Faktoren zusammen.

  • Unterstützung im Prozess der Integration und Orientierung in der Gesellschaft des Einwanderungslande.
    Zu den Aufgaben, die der HSU gemäß neueren Bestimmungen hat, zählt die Unterstützung der Schüler/innen (und teilweise auch von deren Eltern) im Prozess der Integration und Orientierung in der Gesellschaft des Einwanderungslandes.
    Diese Funktion löst die früher zentrale Aufgabe der Unterstützung bei der Remigration ins Herkunftsland und bei der (Wieder-)Eingliederung ins dortige Schulsystem ab. Der Grund für diesen Wechsel ist die Erkenntnis, dass der Großteil der Schüler/innen nicht oder kaum mehr remigrieren wird. Mit dem Ziel der genannten Unterstützung verbindet sich für die Lehrer/innen des HSU die Aufgabe, nicht nur Inhalte mit Bezug auf Herkunftsland und -sprache zu vermitteln, sondern bewusst auch auf das Leben als junger Mensch mit Migrationshintergrund in einer plurikulturellen Umgebung im Einwanderungsland und auf die damit verbundenen Chancen und Probleme (Diskriminierung etc.) einzugehen. Vgl. die explizite Bestimmung aus Hamburg: «Herkunftssprachliche Lehrkräfte haben ab dem 01.08.09 zwei Aufgabenbereiche: Sie unterrichten ihre Herkunftssprache und sind Sprach- und Kulturvermittler» (Landesinstitut Hamburg).

  • PFörderung der interkulturellen Handlungsfähigkeit und Kompetenz
    Dieses Ziel betrifft nicht nur den HSU, sondern die gesamte Schule und Erziehung. Es kann im HSU aber in besonders authentischen Zusammenhängen behandelt werden, da die HSU-Schüler/innen durch ihr Aufwachsen in und zwischen zwei Kulturen (bzw. in einer spezifischen Secondo- oder Tertia-Kultur) mit Interkulturalität existenziell konfrontiert sind.

Eine gute Zusammenstellung von Zielen bzw. von Leit- ideen finden sich in Kap. 3 des Zürcher Rahmenlehrplans für Heimatliche Sprache und Kultur, der in 20 Sprachen im Internet abrufbar ist (s. Literaturhinweise am Schluss von Kap. 1 A).


3. Trägerschaften; Anstellung und Entlöhnung der HSU-Lehrer/innen

(Vgl. auch Kap. 13 A)

Der herkunftssprachliche Unterricht der verschiedenen Sprachgruppen wird im Wesentlichen von drei Typen von Trägerschaften angeboten und organisiert:

  • 1. von den Bildungsinstitutionen des Einwanderungslandes (so z. B. in Schweden, in Österreich oder in einzelnen Bundesländern in Deutschland)
  • 2. von den Konsulaten oder Botschaften der Herkunftsländer (dies trifft z. B. auf den portugiesischen, kroatischen und türkischen HSU in der Schweiz zu)
  • 3. von nichtstaatlichen Trägerschaften (Vereine, Stiftungen. Beispiele: der albanische HSU in der Schweiz, der vom albanischen Lehrer- und Elternverein «Naim Frashëri» organisiert wird, oder der von einem Elternverein getragene kurdische HSU).

Vielerorts ist bei 2) und 3) eine Anerkennung durch die zuständigen nationalen, kantonalen etc. Erziehungsbehörden erforderlich, um als HSU-Anbieter zu gelten, in den öffentlichen Schulen zugelassen zu werden und einen Anspruch auf Nutzung der Schulzimmer und auf Eintrag der HSU-Note ins reguläre Zeugnis zu haben. Erteilt wird diese Anerkennung in der Regel nur, wenn der betreffende HSU politisch und konfessionell neutral und nicht gewinnorientiert ist und von qualifizierten Lehrer/innen erteilt wird.

Neben den anerkannten Trägerschaften gibt es auch nicht anerkannte Trägerschaften (z. B. religiöse Vereine), die eine Art HSU in privaten Lokalitäten durchführen.

In Ausnahmefällen kommt es zu Mischformen der obigen drei Typen. So gab und gibt es etwa in der Schweiz einige Schulversuche (St. Johann in Basel, Limmat A in Zürich), bei denen der HSU in den regulären Unterrichtsbetrieb eingebunden und eng mit diesem vernetzt wurde. Die betreffenden Schulen würden dann dem Typus 1) entsprechen, auch wenn der HSU im restlichen Kanton nach den Typen 2) und 3) organisiert ist.

Zu ergänzen ist, dass beim Typus 2) (Herkunftsstaat als Trägerschaft) die Arbeitsdauer im Einwanderungsland wegen des Rotationsprinzips meist auf vier Jahre befristet ist. Dies ist bei den nichtstaatlichen Trägerschaften nicht der Fall. Anzunehmen ist, dass für die Übernahme von Funktionen im Bereich der Kulturvermittlung und Integrationshilfe eine längere Aufenthaltsdauer im Einwanderungsland vorteilhaft ist.

Die Anstellung und Entlöhnung der HSU-Lehrer/innen erfolgt in aller Regel durch die verantwortliche Trägerschaft, d. h. (entsprechend den obigen Typen 1–3) durch das lokale Bildungsministerium, durch das Herkunftsland oder durch die nichtstaatliche Trägerschaft. Am unvorteilhaftesten ist sicher die Finanzierung durch nichtstaatliche Trägerschaften, wenn diese über wenig Geld verfügen und deshalb die Eltern Beiträge entrichten müssen (vgl. hierzu auch Calderon et al., (2013), S. 9, 67f. und 81ff.). Viele Lehrer/innen dieser Gruppe können denn auch nicht von ihrem Lohn leben und müssen zusätzlich einer anderen Beschäftigung nachgehen. Zu ergänzen bleibt, dass aufgrund der Finanzkrise einige südeuropäische Staaten große Probleme haben, den HSU weiter zu finanzieren, weshalb auch sie begonnen haben, Elternbeiträge zu verlangen.


4. Integration ins Schulsystem

(Vgl. auch Kap. 13 A)

Art und Ausmaß der Integration des HSU ins reguläre Schulsystems des Landes (bzw. des Bundeslandes oder Kantons oder der Gemeinde) unterscheiden sich stark. Am einen, besseren Ende des Spektrums stehen Situationen, wo der HSU Teil des regulären Unterrichts und Schulbetriebs ist, wie dies etwa in Schweden, in Wien, in Hamburg oder in Nordrhein-Westfalen der Fall ist. Organisation und Administration des Unterrichts, wie auch die Entlöhnung der Lehrer/innen, sind hier Sache des Staates bzw. der lokalen Bildungsbehörden. Spezifische Weiterbildungsangebote für die HSU-Lehrer/innen sind eine Selbstverständlichkeit (in Hamburg z. B. haben HSU-Lehrer/innen eine 30-stündige Fortbildungspflicht pro Jahr und können in jedem Schuljahr aus fünf Seminarreihen auswählen). Dieses Modell bietet die besten Voraussetzungen für die koordinierte, fruchtbare Zusammenarbeit zwischen HSU- und Regelklassenunterricht, welche erwiesenermaßen besonders positive Effekte auf den Schulerfolg hat (vgl. u. a. Codina, 1999, zit. in Reich et al., 2002, S. 38).

Am anderen, schlechteren Ende stehen Situationen, wo sich die Integration des HSU bestenfalls auf die Erlaubnis der Nutzung von Schulzimmern zu Randzeiten (am späteren Nachmittag oder an freien Halbtagen und Samstagen) beschränkt, im Übrigen aber keinerlei Zusammenarbeit mit dem Regelunterricht stattfindet. Die HSU-Lehrer/innen fühlen sich und ihre Arbeit hier zu Recht wenig geschätzt und auch für die Eltern und ihre Kinder ist diese Marginalisierung zweifellos wenig motivierend (vgl. hierzu Kapitel 1 B.3).

Eine mittlere Stellung nehmen (Bundes-)Länder oder Kantone ein, die zwar nichts zur Bezahlung der HSU-Lehrer/innen beitragen, die aber durch Anerkennungsverfahren, institutionalisierte Zusammenarbeit, Eintrag der HSU-Note im Zeugnis des regulären Unterrichts, Weiterbildungsangebote, Empfehlungen zur pädagogischen Kooperation etc. zur Wertschätzung und zum Funktionieren des HSU in den Schulen beitragen. Hier werden meist auch die Klassenlehrer/innen angehalten, die Schüler/innen mit Migrationshintergrund und deren Eltern auf den HSU aufmerksam zu machen oder sie dort anzumelden.

Ein großes Problem liegt darin, dass die HSU- Lehrer/innen oft zu Randzeiten und an verschiedenen Schulen unterrichten. Dies erschwert ihre Integration und die Kooperation mit den Regelklassenlehrer/innen stark (vgl. hierzu Kap. 2 B.1).

Tatsächlich lösen lässt sich dieses Problem nur, wenn der HSU fest ins reguläre Schulsystem eingebunden ist, so dass die HSU-Lehrer/innen automatisch Teil des Schulteams sind und auch für ihre Koordinations- und Sitzungszeit entschädigt werden.


5. Die Schülerschaft des HSU

Die meisten Klassen des HSU sind durch eine große Heterogenität gekennzeichnet, und zwar bezogen auf verschiedene Aspekte (vgl. auch die Beiträge in Kap. 1 B und 2 B):


  • Altersmäßig:
    Oft sitzen in derselben Klasse oder Lerngruppe Schüler/innen aus verschiedenen Alters- und Schulstufen, im Extremfall von Vorschulkindern bis zu Schüler/innen des achten oder neunten Schuljahrs.

  • Hinsichtlich Migrationsbiografie und Identität:
    Einige Schüler/innen sind neu zugezogen, haben vielleicht im Herkunftsland schon gute Schulerfahrungen gemacht, sind aber noch sehr damit beschäftigt, sich im neuen Land sprachlich und kulturell zu orientieren. Andere – und dies betrifft den Großteil der HSU-Schüler/innen – sind hier geboren oder leben schon lange im Einwanderungsland und beherrschen die Landessprache besser als ihre Muttersprache. Nicht wenige gehören schon der dritten Generation an. Viele Familien haben bereits die Nationalität des Einwanderungslandes angenommen und bewegen sich kulturell und sprachlich in selbstverständlicher Weise in und zwischen Erst- und Zweitkultur. Zumindest für sie verbindet sich natürlich auch der Begriff «Migrationshintergrund» primär mit der Biografie der Eltern oder Großeltern.

  • Hinsichtlich der Sprachkompetenzen:
    Manche Schüler/innen bringen gute Kompetenzen in ihrer Erstsprache mit, andere beherrschen sie nur sehr mangelhaft, ausschließlich im Dialekt und im mündlichen Register. Der Grad der Kompetenz ist altersunabhängig; so kann es vorkommen, dass ein 9-jähriges Kind sicherer in der Erstsprache ist als ein 13-jähriges.

  • Hinsichtlich des familiären Hintergrunds:
    Manche Schüler/innen kommen aus bildungsnahen Familien, die Interesse gegenüber der Schulung ihrer Kinder zeigen und Unterstützung bieten können. Andere haben Eltern, die sich kaum um die Schule kümmern und keine Unterstützung bieten bzw. bieten können.

Besonders wichtig, vor allem für frisch zugezogene HSU-Lehrer/innen, ist folgende Erkenntnis:

Alle HSU-Schüler/innen verfügen über eine vielfältige Identität, in der sich Elemente, Erfahrungen und Interessen der Herkunftskultur, der Kultur des Einwanderungslandes, bestimmter sozialer Milieus und der spezifischen Secondo-Kultur ihrer Gruppe in je unterschiedlichem Maße mischen.

Jede einseitige Festlegung («Du als Türkin solltest doch…») greift hier zu kurz und geht an der Realität und Erfahrungswelt der Schüler/innen vorbei.


6. Die Spezifik des HSU

Der herkunftssprachliche Unterricht unterscheidet sich vom Unterricht im Herkunftsland (wie auch von demjenigen im Einwanderungsland!) in einigen prägnanten Punkten, die auch in den B-Teilen der Kapitel 1 und 2 immer wieder angesprochen werden. Auf einige wurde bereits eingegangen, auf andere geht Kap. 2 vertieft ein. Die Hauptpunkte sind im Überblick:


  • Größere Heterogenität der Klassen in verschiedener Hinsicht (siehe oben), besondere Herausforderung des Lernens in altersgemischten Gruppen (Mehrklassenunterricht) und des Individualisierens.

  • In der Regel bloß 2–3 Lektionen pro Woche; Kontinuität stark unterbrochen.

  • Vielerorts schwache Einbindung der Lehrer/innen ins lokale Schulsystem (wenig Kontakte zu einheimischen Lehrer/innen, Unsicherheiten bei der Orientierung etc.; vgl. hierzu die Tipps in Kap. 1 B.5).

  • Oft schwierige Arbeitsbedingungen: Arbeit an mehreren Schulen, oft in Randzeiten mit eher müden Schüler/innen; teilweise nur symbolische Entlohnung.

  • Die Lehrer/innen sind durch die Ausbildung im Herkunftsland oft nicht oder ungenügend auf die spezifische Situation des Unterrichts im Einwanderungsland vorbereitet.

  • Am neuen Ort gibt es oft nur wenige Fortbildungsmöglichkeiten.

  • Orientierung an zwei oder drei Lehrplänen: am HSU-Lehrplan des Herkunftslandes (falls ein solcher besteht), am HSU-Lehrplan des Einwanderungslandes (falls ein solcher besteht), an den regulären Lehrplänen des Einwanderungslandes.

  • Die regulären Lehrmittel des Herkunftslandes sind oft nicht oder nur eingeschränkt brauchbar, z. B. weil sie sprachlich zu anspruchsvoll sind und inhaltlich-kulturell nicht auf die Spezifik der HSU-Schüler/innen Bezug nehmen, die in und zwischen zwei Kulturen aufwachsen.

  • Spezifische HSU-Lehrmittel stehen nur für wenige Sprachgruppen zur Verfügung.

  • Zusätzliche Aufgaben der Lehrer/innen in den Bereichen Elternzusammenarbeit, Unterstützung bei der Integration, Kulturvermittlung.

  • Bei neu zugezogenen HSU-Lehrer/innen: eigene Probleme der Orientierung und Integration im neuen Kontext, evtl. Probleme mit der Landessprache; evtl. finanzielle Probleme.

7. Geschichte des HSU

(Vgl. auch Kap. 13 A.2)

Herkunftssprachlichen Unterricht gibt es, grob gesagt, seitdem zu Beginn des 20. Jahrhunderts manche Industrienationen ausländische Arbeiter/innen nicht nur angeworben hatten, sondern auch den Nachzug von deren Familien ermöglichten. In der Schweiz (die noch im 19. Jahrhundert selbst ein Auswanderungsland war) gibt es seit den 1930er-Jahren italienischen HSU, in Frankreich gibt es HSU sogar seit 1925 (Quellen s. u.: Giudici & Bühlmann; ‹Frankreich›). Nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs und dem neuen Aufschwung der westlichen Industrienationen wurden z. B. von Deutschland, der Schweiz und Österreich in den 1950er- bis 70er-Jahren wiederum Arbeitskräfte angeworben, diesmal vermehrt aus Süd- und Südosteuropa. Viele von ihnen brachten bald auch ihre Familien mit, obwohl die meisten nur für ein paar Jahre in der Migration leben und Geld verdienen wollten. Gerade wegen dieser Rückkehrorientierung wurde für sie bald auch HSU organisiert und angeboten; das primäre Ziel war dabei, die (Re-)Integration der betreffenden Schüler/innen ins Schulsystem ihres Herkunftslandes sicherzustellen. Auch politische Flüchtlinge haben in eigener Initiative HSU-Angebote aufgebaut, so z. B. italienische Antifaschisten in der Schweiz vor und während des Zweiten Weltkriegs.

Zur Arbeitsmigration kam v. a. von den 1990er- Jahren an vermehrt auch die Migration von politischen und Kriegsvertriebenen hinzu, so etwa in den mittleren und späten 1990er-Jahren die der Albaner/innen aus Kosova, der Tamilen/Tamilinnen aus Sri Lanka oder gegenwärtig die der syrischen Kriegsvertriebenen. HSU in den entsprechenden Sprachen wurde oft von Elternvereinen initiiert, beantragt und/oder angeboten.

Mit der Globalisierung und dem freien Personenverkehr in Europa ist seit 2000 die Zuwanderung von gut qualifizierten Personen angestiegen. Auch diese «neuen» Einwanderer zeigen sich interessiert an HSU für ihre Kinder und bilden Elternvereine, um solchen anzubieten; dies oft mit gewisser Unterstützung der Herkunftsländer, nicht jedoch unter deren Regie. Das trifft in der Schweiz z. B. auf den französischen, niederländischen, russischen und chinesischen HSU zu.

Parallel zum Zuzug neuer Gruppen und zur Ausweitung des Kursangebots auf immer mehr Sprachen mussten auch die Einwanderungsländer (bzw. die einzelnen Bundesländer, Kantone und Gemeinden) tätig werden und mit Reglementen, Empfehlungen etc. die Art und das Ausmaß der Integration des HSU ins öffentliche Schulsystem regeln. Dass dies in ganz unterschiedlicher Weise geschah und geschieht, wurde oben gezeigt (vgl. auch Kap.13). Einen guten Überblick über die Schweiz, Deutschland, Frankreich und Österreich geben Giudici & Bühlmann (2014), S. 12–22.


Literaturhinweise

Calderon, Ruth; Rosita Fibbi; Jasmine Truong (2013): Arbeitssituation und Weiterbildungsbedürfnisse von Lehrpersonen für den Unterricht in heimatli- cher Sprache und Kultur. Neuchâtel: rc consulta. Link: www.rc-consulta.ch/pdf/HSK-Erhebung_
d_def.pdf

Deutschland (Beispiel Hamburg): Landesinstitut Hamburg (o.D.). Link: http://li.hamburg.de/herkunftssprachlicher-unterricht

Frankreich: Link: http://eduscol.education.fr/cid 45869/quel-avenir-pour-les-enseignements-des- langues-et-cultures-d-origine%A0.html

Giudici, Anja; Regina Bühlmann (2014): Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK): Eine Aus- wahl guter Praxis in der Schweiz. Bern: EDK, Reihe «Studien und Berichte». Link: http://edudoc.ch/ record/112080/files/StuB36A.pdf

HSK-Info für Elternvereine. Informationen und Forum für den Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur. Link: hsk-info.ch

Österreich: Schule mehrsprachig, Österreich (o.D.). Link: http://www.schule-mehrsprachig.at/index. php?id=46

Reich, Hans H.; Hans-Joachim Roth et al. (2002): Spracherwerb zweisprachig aufwachsender Kinder und Jugendlicher. Ein Überblick über den Stand der nationalen und internationalen Forschung. Hamburg: Behörde für Bildung und Sport.
Link: http://li.hamburg.de/contentblob/ 3850330/ data/download-pdf-gutachten-spracherwerb-zweisprachig-aufwachsender-kinder-und-jugendlichen.pdf

Schweiz (Beispiel Zürich). Link: http://www.vsa.zh.ch/hsk (dort auch der Rahmenlehrplan für Heimatliche Sprache und Kultur (HSK), herausge- geben von der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2011).

vpod Bildungspolitik (2014): Sonderheft Nr. 188/189 «Die Zukunft des Erstsprachunterrichts» (div. Beiträge).


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