Vorbemerkung

Anstelle von Beiträgen aus der Praxis des herkunftssprachlichen Unterrichts selbst wird der Praxisteil des vorliegenden Kapitels vom Bericht über ein konkretes Forschungsprojekt zum HSU in der deutschsprachigen Schweiz gebildet.


Herkunftssprachlicher Unterricht im Rampenlicht. Ergebnisse des Forschungsprojekts «Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext»

Edina Krompàk

Der herkunftssprachliche Unterricht oder, wie er in der Schweiz genannt wird, der Unterricht in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) steht des Öfteren im Zentrum bildungspolitischer Diskussionen. Auf der einen Seite wird das Angebot des HSK-Unterrichts von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen (EDK) ausdrücklich empfohlen und werden Finanzhilfen durch Artikel 16 des Sprachengesetzes der Schweiz für «die Förderung der Kenntnisse Anderssprachiger in ihrer Erstsprache» ermöglicht. Auf der anderen Seite unterliegt die institutionelle Förderung der Erstsprache einem stetigen Legitimationsdruck (Krompàk, 2015; vgl. hierzu auch Reich, Kap. 15 A). Der Hauptlegitimationsdruck gründet auf der Annahme, dass die Förderung der Erstsprache die Entwicklung der Zweitsprache begünstige. Hinter dieser Annahme verbirgt sich die Interdependenz-Hypothese von Cummins (1981), die immer wieder als Ausgangslage von empirischen Wirkungsstudien über die Erst- und Zweitsprache eingesetzt wird.


Theoretische Grundlagen des Forschungsprojekts

Das Forschungsprojekt «Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext» (Caprez- Krompàk, 2010) setzte sich zum Ziel, die kaum untersuchten HSK-Kurse (im Weiteren HSU genannt) in der deutschsprachigen Schweiz zu erforschen sowie Erkenntnisse zur Sprachentwicklung von Kindern mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Im Mittelpunkt der Studie standen folgende Fragen: Wie wirkt sich der Besuch des HSU auf die Entwicklung der Sprachkompetenzen in der Erst- und Zweitsprache aus? Welche Bedingungen kennzeichnen die schweizerischen HSK-Kurse? Den theoretischen Hintergrund der Studie bildeten die Erkenntnisse über den schulischen Misserfolg von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund sowie die Interdependenz-Hypothese von Cummins (1981). Diese besagt im Kern, dass ein positiver Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Erst- und der Zweitsprache besteht. Im Originalzitat werden zwei wichtige Voraussetzungen der Interdependenz, nämlich die gleichmäßige Förderung beider Sprachen und die adäquate Motivation, formuliert, welche die empirische Überprüfung der Hypothese erschweren. Im Zusammenhang mit der Hypothese wird behauptet, dass ein anspruchsvolles Niveau in der Zweitsprache nur dann zu erreichen sei, wenn die Erstsprache entsprechend gut entwickelt ist. Diese Annahme wird von der Schwellenniveau-Hypothese von Cummins (1984) abgeleitet*). Die Schwellenniveau-Hypothese, welche später vom Autor selbst kritisch in Frage gestellt wurde (Cummins, 2000), entspricht nicht mehr den Erkenntnissen der neueren Sprachforschung. Im Gegensatz zur Annahme der Schwellenniveau-Hypothese wird die Sprachentwicklung nicht als Stufenmodell, sondern als ein sich dynamisch entwickelndes Modell (Herdina & Jessner, 2000) betrachtet. Mit dem Konzept von Translanguaging (Garcìa, 2009) wird zudem auch die dynamische Entwicklung der Sprachen hervorgehoben und darauf hingewiesen, dass bei zwei- und mehrsprachigen Individuen keine klaren Grenzen zwischen den einzelnen Sprachen existieren.

  • *) Bei der Schwellenniveau-Hypothese nach Cummins (1984) wird davon ausgegangen, dass die Sprachentwicklung in der Erst- und Zweitsprache auf drei Schwellenniveaus abläuft. Unterhalb der untersten Schwelle befindet sich der Semilingualismus (Halbsprachigkeit), der auf niedrige Sprachkompetenzen hindeutet und negative kognitive Auswirkungen hat. Weder positive noch negative Auswirkungen zeigt der dominante Bilingualismus, in dem eine der beiden Sprachen auf hohem Niveau beherrscht wird. Beim additiven Bilingualismus handelt es sich um hohe Sprachkompetenzen sowohl in der Erst- als auch in der Zweitsprache. Dieses oberste Schwellenniveau hat positive Auswirkungen auf die kognitive Entwicklung (Caprez-Krompàk, 2010).

Zentrale Erkenntnisse der Studie

Um ein differenziertes Bild des HSK-Unterrichts (HSU) zu erhalten, wurde ein Forschungsdesign für die Studie gewählt, das verschiedene Felder wie «Ebene des Individuums», «Ebene des Elternhauses» und «Ebene der Schule» berücksichtigte.

Im Bereich «Ebene des Individuums» wurden albanisch- und türkischsprechende Schüler/innen des vierten und fünften Schuljahrs zu zwei Zeitpunkten mit dem C-Test in der Erst- und Zweitsprache getestet. Zum ersten Erhebungszeitpunkt bestand die Gruppe mit HSU aus 126 Schüler/innen und die Gruppe ohne HSU aus 55 Schüler/innen. An der zweiten Erhebung nahmen 80 Kinder mit und 46 Kinder ohne HSU teil. Als Kontrollvariablen wurden die Motivation für das Sprachenlernen, der sozioökonomische Status der Eltern, ihre sprachliche und kulturelle Einstellung sowie ihre Unterstützung beim Sprachenlernen in die Analyse einbezogen. Die zentrale Erkenntnis der Längsschnittstudie bestand darin, dass der Besuch des HSU unter Berücksichtigung der Kontrollvariablen einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der Erstsprache (Albanisch) ausübt (aufgrund der gesunkenen Teilnehmerzahl in der Kontrollgruppe der türkischsprechenden Kinder ohne HSU musste auf die Analyse der türkischen C-Tests verzichtet werden).

Der Besuch des HSU sowie die elterliche Unterstützung beeinflussen die Entwicklung der albanischen Sprache bei den untersuchten Personen positiv. Bei der Entwicklung der Zweitsprache Deutsch zeigte sich eine parallele Entwicklung beider Gruppen, wobei die Kinder mit HSU zu beiden Erhebungszeitpunkten signifikant bessere Resultate erreichten als die Kinder ohne HSU. Dieser Unterschied konnte jedoch nicht mit der positiven Wirkung des HSU erklärt werden. Die Kontrollvariablen wie sozioökonomischer Status der Eltern und Motivation übten keinen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der Sprachkompetenzen im Deutschen aus. Die sprachlichen Leistungen im Deutschen zum zweiten Erhebungszeitpunkt wurden ausschließlich durch die sprachlichen Leistungen zum ersten Erhebungszeitpunkt erklärt.

Zusammenfassend kann gefolgert werden, dass die institutionalisierte Förderung der Erstsprache, obwohl sie nur einmal pro Woche stattfindet, einen positiven Einfluss auf die Erstsprache ausübt und die Förderung der Zweitsprache nicht beeinträchtigt. Die Befunde zeigen sogar eine tendenziell positive Wirkung auf die allgemeine Sprachkompetenz, wovon auch die Zweitsprache (Deutsch) profitiert.

Aufgrund der Ergebnisse der quantitativen Analyse von 111 Elternfragebögen auf der Ebene des Elternhauses wurde deutlich, dass die elterliche Unterstützung bei der Sprachentwicklung eine wichtige, jedoch keine allein entscheidende Rolle spielt. Es zeigte sich ein unterschiedliches Muster in der Förderung der Erstsprache: Während die Mütter mit ihren Kindern deutlich häufiger in der Erstsprache kommunizierten, zeichnete sich der Sprachgebrauch zwischen Vater und Kind durch Sprachwechsel (code-switching) aus (vgl. hierzu auch Schader, 2006). Die Analyse der qualitativen Daten unterstrich die Bedeutung der elterlichen Einstellung für die Sprachförderung. Diejenigen Eltern, deren Kinder den HSU besuchten, hoben die Bedeutung der Förderung der Erstsprache, der Mehrsprachigkeit und der Vermittlung von Wissen über das Herkunftsland der Eltern sowie der Integration in die Schweizer Gesellschaft hervor.

Auf der Ebene der Schule zeigten die zentralen Ergebnisse der quantitativen Befragung von 338 HSU-Lehrpersonen in der Deutschschweiz die fehlende Integration des HSU in den regulären Unterricht und die damit zusammenhängende kaum vorhandene Zusammenarbeit mit den Schweizer Lehrpersonen sowie die Unsicherheit bezüglich der Finanzierung der HSU-Kurse. Einerseits erfolgt die Finanzierung dieser Kurse durch die Eltern, andererseits durch die Konsulate und Botschaften und in einigen Fällen durch die Kantone bzw. die Stadt (vgl. hierzu Kap. 1 A.3 in diesem Band). Dementsprechend ergeben sich große Unterschiede bei den Löhnen sowie unsichere Anstellungsbedingungen.

Ein weiteres Ergebnis deutete auf die Defizite in der Aus- und Weiterbildung von HSK-Lehrpersonen hin (vgl. Kap. 14). Obwohl die Mehrheit der Befragten eine tertiäre Ausbildung im Heimatland absolviert hat, verfügen nur knapp 50% über eine Ausbildung als Sprachlehrperson. Die Teilnahme an Weiterbildungsangeboten wird durch die Finanzierung (in vielen Fällen müssen die HSU-Lehrpersonen selber die Kosten übernehmen) und die Arbeitszeiten erschwert. In Bezug auf die Förderung der Zweisprachigkeit stellte sich ein einseitiges Bild dar: Das Hauptziel der befragten HSU-Lehrpersonen bestand ausschließlich in der Förderung der Erstsprache und in der Vermittlung von Kenntnissen über das jeweilige Herkunftsland.


Resümee und Ausblick

Zusammenfassend kann gefolgert werden, dass die Interdependenz-Hypothese einen wichtigen Beitrag zur differenzierten Wahrnehmung der Sprachkompetenzen von zweisprachigen Kindern geleistet hat. Allerdings eignet sich die Hypothese nicht für die Legitimation des HSU. Einerseits ist die empirische Überprüfbarkeit der Hypothese durch die formulierten Bedingungen erschwert, andererseits sollte die Argumentation für die Förderung der Erstsprachen eine andere Richtung nehmen, welche die individuelle und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit als Normalität anerkennt und diese dementsprechend (auch unabhängig von einer zu erwartenden Wirkung auf die Zweitsprache) fördert und wertschätzt.

Es wäre wünschenswert, wenn die institutionelle Förderung der Erstsprachen durch den HSU in den Bereichen «Integration» sowie «Aus- und Weiterbildung der HSU-Lehrpersonen» ausgebaut und optimiert würde. Darüber hinaus sollte die Thematik der Zwei- und Mehrsprachigkeit bzw. des Translanguaging (Garcìa, 2009) eine gewichtige Rolle in Bezug auf die Heterogenität in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung bekommen. Weiterhin besteht Forschungsbedarf hinsichtlich der vielfältigen sprachlichen Praktiken von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen sowohl in der Familie als auch in den Bildungsinstitutionen. Die Sprachenvielfalt des 21. Jahrhunderts könnte und sollte unter Berücksichtigung der oben erwähnten Maßnahmen auch im Bildungssystem für alle Beteiligten vermehrt als wichtige Ressource sicht- und erlebbar werden.


Literaturhinweise

Caprez-Krompàk, Edina (2010): Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) auf die Sprachentwick- lung. Münster: Waxmann.

Caprez-Krompàk, Edina (2011): Was bringt der HSK-Unterricht für die Sprachentwicklung? vpod bildungspolitik, 174, S. 9–11.

Cummins, Jim (1981): The Role of Primary Language Development in Promoting Educational Success for Language Minority Students. In: California State Department of Education (ed.): Schooling and Language Minority Students: A Theoretical Framework. Los Angeles: Evaluation, Disseminati- on and Assessment Center, California State University, S. 3–49.

Cummins, Jim (1984): Bilingualism and Special Education: Issues in Assessment and Pedagogy.
Clevedon: Multilingual Matters.

Cummins, Jim (2000): Language, Power and Pedagogy. Bilingual Children in the Crossfire. Clevedon: Multilingual Matters.

Garcìa, Ofelia (2009): Bilingual Education in the 21th Century: A Global Perspective. West-Sussex: Wiley-Blackwell.

Herdina, Philip; Ulrike Jessner (2000): The Dynamics of Third Language Acquisition. In: Jasone Cenoz; Ulrike Jessner (eds.): English in Europe. The Acquisition of a Third Language. Clevedon: Multilingual Matters, S. 84–98.

Krompàk, Edina (2015): Herkunftssprachlicher Unter- richt. Ein Begriff im Wandel. In: Rudolf Leiprecht; Anja Steinbach (Hrsg.): Schule in der Migrations- gesellschaft. Ein Handbuch. Bd 2: Sprache – Rassismus – Professionalität. Schwalbach/Ts.: Wochenschauverlag, S. 64–83.

Schader, Basil (Hrsg.) (2006): Albanischsprachige Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Hinter- gründe, sprach- und schulbezogene Unter- suchungen. Zürich: Verlag Pestalozzianum.


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