Sabina Larcher Klee


1. Orientierungspunkte bei der Wahl von Inhalten und Themen

(Basil Schader)

Bei der Grobplanung ihres Unterrichts (Jahres-, Semester- oder Quartalsplanung) orientieren sich HSU-Lehrer/innen in aller Regel an den folgenden Determinanten:

Reglementarische Vorgaben


  1. Vorgaben des HSU-Lehrplans des Herkunftslandes, falls ein solcher besteht (vgl. Kap. 1 A).

  1. Vorgaben des HSU-Lehrplans oder ähnlicher Re- glemente des Einwanderungslandes, falls solche Dokumente bestehen (vgl. Kap. 1 A).
    Die HSU-Lehrpläne des Herkunftslandes konzen- trieren sich meist eher auf Inhalte aus der eigenen Kultur, Geschichte, Landes- und Sprachkunde. Die HSU-Lehrpläne der Einwanderungsländer (siehe die Beispiele in den Literaturhinweisen zu Kap. 1 A) fokussieren demgegenüber stark auch auf Themen im Zusammenhang mit Orientierung, Integration und dem Zusammenleben in der Migrationssituation.
    Diese beiden unterschiedlichen Fokusse sollen nicht zu einem Dilemma führen, stellen die HSU-Lehrpersonen aber vor die spannende Herausforderung, beide Perspektiven zu berücksichtigen – was ja auch vollumfänglich der Realität und dem Erfahrungshintergrund ihrer Schüler/innen entspricht. Vgl. hierzu auch Kap. 2 A.

 

Lehrmittel und weitere Unterrichtsmaterialien


  1. HSU-Lehrmittel oder ähnliche Materialien des Herkunftslandes, falls es solche gibt (vgl. Kap. 1 A und 10). Wie die Rückmeldungen vieler HSU-Lehrpersonen zeigen, müssen die von den Herkunftsländern zur Verfügung gestellten Lehrmittel teilweise beträchtlich adaptiert werden, da sie bisweilen sprachlich deutlich zu anspruchsvoll sind und/oder inhaltlich zu wenig Bezug auf die spezifische Situation des Aufwachsens in der Migration nehmen.

  1. Weitere Materialien, die die HSU-Lehrperson gesammelt und didaktisch aufbereitet hat (aus Büchern, Zeitschriften, Websites, Lehrmitteln des Einwanderungslandes etc.; vgl. Kap. 10).

 

Lokale institutionelle Gegebenheiten und Möglichkeiten


  1. Gegebenheiten und Möglichkeiten, die sich aus der Kooperation mit dem regulären Unterricht im Einwanderungsland ergeben (vgl. Kap. 12 und 13). Ob und in welchem Ausmaß entsprechende Möglichkeiten (Wahl gemeinsamer Inhalte und Themen, Kooperationsprojekte, Projektwochen etc.) bestehen, hängt stark von der landesspezifischen Integration des HSU ins reguläre Schulsystem ab. Wo HSU und Regelunterricht institutionell eng vernetzt sind, wie z. B. in Schweden, bieten sich vielfältige und fruchtbare Möglichkeiten an; wo der HSU weitgehend isoliert ist, stellen schon klei-ne, ausnahmsweise mögliche Kooperationen eine Errungenschaft dar.

 

Pädagogische und lernpsychologische Überlegungen


  1. Bedürfnisse, Interessen und Voraussetzungen der Schüler/innen in sprachlicher und inhaltlicher Hinsicht (vgl. Kap. 3–5).

  1. Orientierung an aktuellen pädagogischen und lern- psychologischen Prinzipien und Standards (vgl. hierzu Kap. 3–8).

Die Punkte 6 und 7 bilden quasi das A und O der konkreten Unterrichtspraxis und -planung. Mit dieser setzt sich detailliert Kapitel 11 auseinander.

In Ergänzung zu den genannten Kapiteln werden nachfolgend einige Punkte näher ausgeführt. Ihre Beachtung bei der Wahl und Gestaltung der Inhalte und Themen ist von großer Bedeutung für einen Unterricht, welcher der sprachlichen und kulturellen Realität der HSU-Schüler/innen, ihrem Erfahrungshintergrund, ihren Lernbedürfnissen und ihren bikulturell-bilingualen Kompetenzen entspricht.


2. Erwägender Unterricht – Vor- überlegungen zu Inhalt und Themen

Seit den späten 1960er-Jahren besteht Konsens darüber, dass der schulischen Förderung der vorherrschenden Unterrichtssprache erstrangige Bedeutung für die erfolgreiche Integration von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund in das lokale Bildungssystem zukommt (Allemann-Ghionda et al., 2010). Der Stellenwert der Erst- oder Herkunftssprache der Schüler/innen wird hingegen mit Blick auf den Bildungserfolg nach wie vor kontrovers und wenig datengestützt diskutiert: Grundsätzlich geht es um die Frage, ob die zweisprachige und bikulturelle Sozialisation eine Ressource oder ein Problem für die Kinder und Jugendlichen darstellt (ebd.; vgl. auch Kap. 15 im vorliegenden Band). Auch wenn zahlreiche Befunde für positive Effekte sprechen und das Erlernen und Verfügen über mehrere Sprachen als Potenzial gesehen wird, bewegen sich die betroffenen Schülerinnen und Schüler in diesem ambivalenten Kontext und sind durch diesen geprägt. Dies gilt auch für die Programme und Inhalte des HSU.

Vielleicht liegt es daran, dass diese Programme und Inhalte selten systematisch auf ihre Wirksamkeit hin evaluiert werden. Im Kontext der zunehmenden Kompetenzorientierung gilt es, hierzu Forschungs- und Wissenslücken zu schließen und neue Perspektiven mit Blick auf den Bildungserfolg der betroffenen Schülerinnen und Schüler zu entwickeln. Auch die gesellschaftliche Akzeptanz und die schulische Anerkennung der Migrationssprachen sind immer wieder sorgfältig zu überprüfen: Obwohl sie unbestritten eine bedeutende wirtschaftliche wie auch gesellschaftliche Ressource darstellen (Kavacik & Skenderovic, 2011, S. 33), sind sie politischen Tendenzen unterworfen, die stark in die Schule hineinwirken. Wie kann der HSU-Unterricht, wie kann die Wahl der entsprechenden Themen und Inhalte hier unterstützend wirken?

Bezogen auf den Unterricht weisen Forschungsbefunde darauf hin, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund tendenziell eine positive schulische Entwicklung nehmen, wenn Unterricht systematische Transferprozesse und -leistungen ermöglicht, sei dies im HSU, sei es im regulären Unterricht des Einwanderungslandes. Insbesondere wurde dies für die Effekte der Sprachvergleiche und der Unterstützung von Sprachtransferprozessen herausgearbeitet (Göbel, et al., 2010). Für einen Umgang mit Vielfalt, insbesondere was interkulturelles Lernen und interkulturelle Kompetenz betrifft, sind die Entwicklung und Unterstützung reflexiv-kritischer Kompetenzen im Unterricht förderlich (Blanck, 2012, S. 143).

Die anerkannte Bedeutung von Sprachvergleichen und interkulturellem Lernen bedeutet für HSU-Lehrer/innen, Transferprozesse und reflexiv-kritische Kompetenzen ins Zentrum eines vergleichenden, genauer: erwägenden Unterrichts (Blanck ebd.) zu stellen.

Themen und Inhalte sind daran zu prüfen, wie weit sie dies wirklich tun bzw. ermöglichen. Die fachlichen Dimensionen des Unterrichtens umfassen dabei eine breite Palette an methodischen Umgangsweisen mit Vielfalt und die spezifische inhaltliche Gestaltung von Bildungsangeboten (vgl. dazu Kap. 5). In einem erwägenden Unterricht, der Transfer unterstützt, ist für Lehrende wie auch für Lernende die Frage: «Könnte es auch anders sein?» wegleitend. Themen und Inhalte werden durch diese Frage dem Vergleich und damit der systematischen Reflexion unterzogen. Das Eigene und das Andere, vielleicht auch Fremde, stehen damit im Mittelpunkt eines kritischen, aber unideologischen Unterrichts.


3. «Könnte es auch anders sein?» – Die Förderung von Sprachvergleich und -transfer sowie kritischer Reflexionskompetenzen

Vielfalt, sprachlich und kulturell, muss zuerst einmal als solche erfasst werden: Im Kontext eines erwägenden Unterrichts meint dies ein Erfassen von Differenzen und von Gemeinsamkeiten, keine festlegende Zuschreibung von Eigenschaften oder Fähigkeiten. Dies gilt sowohl für den HSU wie auch für den Regel- unterricht. Die Bestimmung der Themen und Inhalte des Unterrichts muss deshalb das Ziel, die Spezifik, die Anwendungsgebiete sowie den zugrunde liegenden Kulturbegriff interkultureller Kompetenz und sprachlicher Transferkompetenz berücksichtigen. Ein geglücktes Beispiel in diesem Sinne sind die Themen des Zürcherischen HSU-Rahmenlehrplans (2011) für die Unterrichtsbereiche «Sprache» sowie «Mensch und Umwelt».

Wie verhält es sich dabei mit der Anforderung an die Metakognition, wie sie eingangs – Stichwort Vergleich und Transfer – formuliert wurde? Welche Voraussetzungen hat solch ein vergleichender Unterricht, der zum einen zum Erwerb und/oder zur Perfektionierung der Herkunftssprache und zum andern zur Entwicklung von interkulturellen Kompetenzen führen soll (vgl. Bildungsdirektion Kanton Zürich, 2011, S.7)? Welche Entscheidungen müssen betreffend Themen und Inhalte gefällt werden?

Grundlegend dafür, systematische Transferprozesse und -leistungen zu ermöglichen und kritische Reflexionskompetenzen bei Kindern und Jugendlichen zu fördern, sind sicherlich die folgenden Prozessschritte für die Unterrichtsplanung: Aus den Unterrichtsbereichen des Lehrplans (HSU-Lehrplan des Herkunftslandes, Rahmenlehrplan des Einwanderungslandes) wird im Hinblick auf die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler (vgl. dazu Kap. 5) ein geeigneter Inhalt gewonnen und festgelegt, der Vergleich und Transfer zulässt. Durch die Kombination mit ausgewählten Betrachtungsweisen – historisch, geografisch, kulturell, strukturell oder personal etc. – werden Unterrichtsthemen bestimmt, die das Potenzial haben, in Alternativen entwickelt werden zu können. In diesem Sinne zeigt der Praxisteil zum vorliegenden Kapitel (9 B) verschiedene Blickwinkel auf: Themen in Zusammenhang mit der Herkunftskultur; die Frage des Dazwischen; Themen, die den Transfer direkt aufnehmen, sowie kultur- und sprachunspezifische Themen. Mit Blick auf die gewünschten Wirkungen, die z. B. im Zürcher Rahmenlehrplan aufgeführt sind, werden entsprechende methodische Umgangsweisen gewählt. Dazu ist es nötig, sich nochmals in aller Kürze den veränderten Lernbegriff und die damit verbundene Kompetenzorientierung vor Augen zu führen sowie das Verständnis von interkultureller Kompetenz kurz anzusprechen.

a) Kompetenzorientierung und Lernbegriff

Kompetenzorientierung beinhaltet eine Erweiterung des Lernbegriffs, indem neu Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Haltungen und Motivationen integriert werden (vgl. Kap. 5 A). Erwägender Unterricht, das Denken in Alternativen und die Kompetenz, Transfer zu leisten, sind damit verbunden. Die Unterrichtsplanung und -gestaltung ist entsprechend am Lernen und der Performanz der Schülerinnen und Schüler orientiert, dies sowohl kurz- wie auch langfristig (vom Lernen in einzelnen Unterrichtssequenzen bis hin zum lebenslangen Lernen). Lernen im Sinne einer Kompetenzorientierung ist deshalb als Prozess zu verstehen, was veränderte Anforderungen an die Lernenden wie auch an die Lehrenden stellt: So ist die Anforderung an das Ermöglichen von Metakognition (im Sinne der Transparenz von Lernschritten), an die Planung der Prozesse und der Lernzeit, an die Strukturierung des Unterrichts etc. anspruchsvoller geworden. Dies gilt selbstverständlich auch für den HSU.

Kompetenzorientiertes Unterrichten erfindet zwar das Lehren und Lernen nicht neu und stellt es auch nicht auf den Kopf. Es verlangt jedoch die konsequente Orientierung an den Lernenden bzw. am Lernen. Der konsequente Fokus der Personalisierung des Lernens bringt es mit sich, dass die Diagnose, die entsprechenden Aufgaben und die Organisation der Lernumgebung, die Metakognition wie auch die Evaluation der Leistungen bzw. des Lernzuwachses hohe Strukturierungs- und Planungskompetenzen seitens der Lehrpersonen erfordern.

b) Interkulturelle Kompetenz

Bei der Beschreibung von interkultureller Kompetenz werden zwei Modelle diskutiert: zum einen Listenmodelle, zum andern Strukturmodelle. Während erstere relevante Teilkompetenzen einfach aufzählen, ordnen die Strukturmodelle Teilkompetenzen verschiedenen Dimensionen eines systematischen Prozesses zu. Darauf etwas näher einzugehen scheint umso wichtiger, als exakte Angaben hierzu oft auch in den Rahmeninstrumenten (z. B. im Zürcher Rahmenlehrplan) fehlen. Vor allem aber führt erst die Beantwortung der Frage, wozu interkulturelle Kompetenz eigentlich gut ist und in welchen Situationen sie relevant wird, zur Antwort, aus welchen Teilkompetenzen sie sich zusammensetzt, in welchen Zusammenhängen diese Teilkompetenzen sichtbar werden und ob resp. wie sie erlernt oder vermittelt werden können (Rathje, 2006, S. 3).

Mit Blick auf eine eigenständige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen ist es deshalb zentral, von einem Modell auszugehen, das die folgenden Überzeugungen in den Mittelpunkt stellt: Kultur existiert innerhalb von menschlichen Kollektiven (Hansen, 2000) und bezieht sich nicht per se auf eine Gesellschaft oder Nation; Kulturen zeichnen sich durch Differenz und Widersprüche aus. Dies bedeutet, dass in allen komplexen Kollektiven «nicht nur Vielfalt, sondern Diversität, Heterogenität, Divergenzen und Widersprüche» bestehen (ebd., S. 182). Kultur lässt sich so als ein fassbarer Vorrat unterschiedlicher Sichtweisen und Perspektiven verstehen, der sich von Kollektiv zu Kollektiv unterscheidet. Menschen, Kinder und Jugendliche gehören verschiedenen Kollektiven an, die sich durch unterschiedliche Kulturen auszeichnen. Die Komplexität für Schüler/innen mit Migrationshintergrund ist damit hoch.

Sicherheit und Stabilität wird jedoch nicht durch Vereinfachung erreicht, durch nationale oder lokale Fixierung, sondern durch die Erzeugung von Normalität der Differenz.

Eine Kultur, «das ist ihr wesentlichstes Kriterium und ihre wirkungsvollste und tiefste Leistung, definiert Normalität, und diese Normalität wirkt auf ihre Art ebenso bindend und verbindlich wie soziale und politische Strukturen» (ebd., S. 233). Der Zusammenhalt einer Kultur ergibt sich dann aus der Bekanntheit und der Normalität ihrer Differenzen und nicht aus ihrer Kohärenz.

Angewandt auf die Frage nach interkultureller Kompetenz und deren Aufbau im Unterricht (vgl. hierzu auch Kap. 4 A) umfasst dies die Fähigkeit, in interkulturellen Interaktionen fehlende Normalität zu erzeugen und Kohäsion zu ermöglichen, indem unbekannte Differenzen bekannt werden. Anders formuliert: Interkulturelle Kompetenz «ist eine schöpferische Fähigkeit, diese neue Ordnung zwischen Menschen verschiedener Kulturen zu stiften und fruchtbar zu machen» (Wierlacher, 2003, S. 216). Das Ergebnis ist Kulturalität (Rathje, 2004, S. 301) und nicht Nationalität.


Literaturhinweise

Allemann-Ghionda, Cristina et al. (Hrsg.) (2010): Migration, Identität, Sprache und Bildungserfolg. Zeitschrift für Pädagogik, 56. Jahrgang, 55. Beiheft.

Bildungsdirektion Kanton Zürich (2011): Rahmenlehr- plan für Heimatliche Sprache und Kultur (HSK). Link: http://www.vsa.zh.ch/hsk

Blanck, Bettina (2012): Reflexiv-kritischer Umgang mit Vielfalt. In: Julia Košinàr; Sabine Leinweber; Heike Hegemann-Fonger; Ursula Carle (Hrsg.): Vielfalt und Anerkennung. Hohengehren: Schneider Verlag.

Göbel, Kerstin; Svenja Vieluf; Hermann-Günter Hesse (2010): Die Sprachentransferunterstützung im Deutsch- und Englischunterricht bei Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Sprachenlern-
erfahrung. In: Cristina Allemann-Ghionda et al. (Hrsg.): Migration, Identität, Sprache und Bildungserfolg. Zeitschrift für Pädagogik, 56. Jahrgang, 55. Beiheft, S. 101–122.

Hansen, Klaus Peter (2000): Kultur und Kulturwissen- schaft. Paderborn: UTB.

Kavacik, Zuhal; Damir Skenderovic (2011): Renais- sance der Homogenitätsideologie. Integrations- politik und Sprache in Deutschland und der Schweiz. WBZ Mitteilungen, Heft 131, S. 30–33.

Rathje, Stephanie (2006): Interkulturelle Kompetenz – Zustand und Zukunft eines umstrittenen Kon- zepts. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdspra- chenunterricht, 11 (3), S. 1–15.

Wierlacher, Alois (2003): Das tragfähige Zwischen. Erwägen, Wissen, Ethik, 14 (1), S. 215–217.


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