1. Božena Alebić: Mein Umgang mit dem Prinzip der Individualisierung

Božena Alebić stammt aus Kroatien (Split). Von 2004–2008 und 2010–2014 arbeitete sie als Lehrerin des kroatischen HSU in Zürich.

Im Kroatischunterricht im Ausland ist es unumgänglich, das Prinzip der Individualisierung umzusetzen, da die Kinder dies aus dem normalen Klassenunterricht gewöhnt sind. Deshalb versuche ich immer, in kürzestmöglicher Zeit jedes Kind und seine sprachlichen Kompetenzen, sein Vorwissen, seine Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenzulernen.

Individualisierung fängt bei mir schon bei der Auswahl und Planung der Themen an. Ich schaue, dass ein Thema auf verschiedenen Niveaus oder Alters- und Schwierigkeitsstufen behandelt werden kann. Meist beginne ich mit einer gemeinsamen Phase, in der die Voraussetzungen und die für das Thema grundlegenden kroatischen Begriffe für alle Schüler/innen geklärt werden. Einige der Begriffe sind bereits bekannt und etabliert, während andere neu eingeführt werden müssen. Danach folgt oft eine individualisierte schriftliche Aufgabe, die allein oder in Partnerarbeit bearbeitet wird. Dafür entwickle ich z. B. verschiedene, vom Anspruchsniveau her differenzierte Variationen eines Arbeitsblattes. Ich achte darauf, dass jede Version und jedes Arbeitsblatt mit einfachen Aufgaben beginnt und dass sich die Schwierigkeit langsam steigert, so dass am Schluss die komplexesten Aufträge stehen. Damit können auch schwächere Schüler/innen Erfolgserlebnisse haben, indem sie die ersten paar (leichten) Aufgaben bewältigen. Auch bei Lernkontrollen und Prüfungen achte ich auf diese Steigerung. Ich kann dann z. B. verlangen, dass die schwächeren Schüler/innen mindestens die ersten fünf Fragen beantworten, die mittleren zehn und die starken Schüler/innen 15 Fragen. Das Hauptziel dieses Vorgehens ist es, dass jedes Arbeitsblatt optimal an die Bedürfnisse und das Können der Schüler/innen angepasst ist.

Das Prinzip der Individualisierung beachte ich auch bei Sprachübungen und mündlichen Aufgaben. Als Erstes passe ich genau auf, dass jede/r Schüler/in den präsentierten Inhalt versteht. Oft erkläre ich die gleiche Aufgabe auf unterschiedliche Art und Weise, und manchmal erkläre ich sie den unsicheren Schüler/innen noch einzeln. Die Inhalte der Aufgaben und die Themen von Klassengesprächen gestalte ich so, dass sie möglichst nahe an der Erfahrungswelt der einzelnen Kinder sind. Ich versuche Themen und Aufgabestellungen zu wählen, die sie interessieren, die ihre Erfahrungen, ihr Vorwissen und ihre Kenntnisse treffen. Da die Klassen in Bezug auf Alter, Geschlecht, Kroatischkompetenz, Interessen etc. der Schüler/innen sehr heterogen sind, lasse ich manche Themen auch nicht im Plenum, sondern in Kleingruppen diskutieren. Jede Gruppe präsentiert dann abschließend kurz, was sie erarbeitet und herausgefunden hat.

Im Vergleich zum regulären Unterricht in der Republik Kroatien ist die beschriebene Heterogenität der Klassen im HSU eine große Herausforderung. In einer Gruppe befinden sich oft Kinder vom Kindergarten bis zur 8. Klasse. In einer solchen Gruppe ist es sehr schwierig, eine gemeinsame Arbeitsmotivation zu finden, selbst wenn es bloß um ein einfaches Konzentrationsspiel geht.

Neben dem Individualisieren kommen in meinem Unterricht auch andere pädagogische Prinzipien zum Zuge. Als wichtigste nenne ich das Prinzip der Selbstständigkeit, das Prinzip des spielerischen Lernens und das Prinzip der Kreativität. Die Prinzipien des spielerischen Lernens und der Kreativität versuche ich wenn immer möglich anzuwenden, weil nur schon der Begriff «Spiel» eine motivierende Wirkung auf die Schüler/innen hat. In diesem Sinne spielen wir verschiedene Sprachspiele, Gedächtnisspiele, Auswendiglernspiele, Konzentrationsspiele etc., die natürlich alle auch einen großen Lerneffekt haben. Den Unterricht auf diese Weise zu gestalten, verlangt viel Kreativität und Engagement; die Freude und der Einsatz der Schüler/innen zeigen aber, dass sich das unbedingt lohnt.


2. Saliha Salih Alcon: Individualisierung und Förderung der Selbstständigkeit – Gründe und ein Beispiel

Saliha Salih Alcon stammt aus Spanien. Sie lebt seit neun Jahren in Wien und ist dort seit zwei Jahren als Muttersprache-Lehrerin für Arabisch und Spanisch tätig.

In meinem Arabischunterricht habe ich Schüler/innen mit ganz unterschiedlichen sprachlichen Niveaus und Voraussetzungen.

Viele Kinder stammen aus gemischten Ehen, wobei meistens der Vater Arabisch spricht. Diese Kinder sprechen und verstehen kaum Arabisch. Der HSU stellt für sie meist die einzige Möglichkeit dar, Arabisch «richtig» zu lernen.

Daneben gibt es in meinen Klassen Kinder, bei denen beide Elternteile Araber sind. Da sie aber aus verschiedenen arabischen Ländern kommen und ganz unterschiedliche Dialekte sprechen, haben auch sie meist Schwierigkeiten, Hoch- oder Standardarabisch zu verstehen und zu sprechen.

Manche meiner Schüler/innen können schreiben, aber nicht sinnerfassend lesen, andere haben eine Aussprache, die dringend verbessert werden muss. Andere sprechen gut und verstehen vieles, können aber weder lesen noch schreiben. Gesamthaft ergibt sich, dass beinahe jedes Kind unterschiedliche Sprach- und Lesekompetenzen, unterschiedliche Kenntnisse, Voraussetzungen und Lernbedürfnisse hat. Meine erste Aufgabe ist es zu erkennen, welches der Stand der einzelnen Kinder ist und in welchen Bereichen sie gefördert werden sollen.

Auf diesem Hintergrund sind die pädagogischen Prinzipien der Individualisierung und der Selbstständigkeit sehr wichtig. Die Klasse als «homogene Gruppe» zu behandeln und allen den gleichen Lernstoff vorzusetzen, wäre absolut unmöglich; ohne Individualisierung und Differenzierung des Unterrichts geht es nicht. Die Selbstständigkeit der Schüler/innen fördere ich, damit sie nicht nur lernen, alleine oder in Gruppen Aufgabenstellungen zu bewältigen, sondern auch ihre Fähigkeit entwickeln, sich über den eigenen Wissensstand und die eigenen Lernbedürfnisse Gedanken zu machen.

Ein weiteres wichtiges Prinzip ist die Kompetenz- orientierung des Unterrichts. Für mich heißt das, dass ich vor einzelnen Lektionen oder Themenreihen genau überlege, welche sachlichen, sprachlichen, personalen und sozialen Kompetenzen die Schüler/innen erwerben oder vertiefen sollen und auf welche Weise ich anschließend feststellen kann, ob dieser Kompetenzaufbau auch stattgefunden hat.

Ein Beispiel: Planung einer binnendifferenzierten Unterrichtseinheit für die Unterstufe; «Thema Zusammenleben verschiedener Religionen»


  1. Einstieg: ich frage die Kinder, ob sie schon einmal in einer Kirche oder Moschee waren, und lasse sie kurz darüber berichten. Ich erkläre ihnen, dass wir heute dieses Thema gemeinsam durchnehmen werden, und sage ihnen, wie der Unterricht aussehen wird.

  1. Erarbeitung: Wir sehen uns alle gemeinsam eine kurze Videosequenz zu Kirchen und Moscheen in arabischer Sprache an. Nachdem wir Verständnisprobleme geklärt haben, teile ich die Kinder in zwei Gruppen. Die Kinder, die des Lesens mächtig sind, bekommen einen Lückentext samt der fehlenden Wörter zum Ausschneiden und Einkleben. Wenn sie fertig sind, kommen sie zu mir. Ich bespreche mit ihnen, wie sie die Aufgabe gelöst haben, was sie gut können und wo sie sich bzw. ihre Kompetenzen noch verbessern könnten. Anschließend bekommen sie das Bild einer Moschee oder Kirche zum Ausmalen. Die anderen Kinder lasse ich die Anfangsbuchstaben der Begriffe ‹Moschee› und ‹Kirche› auf Arabisch von der Tafel abschreiben und üben. Wenn sie fertig sind, zeigen sie mir ihre Arbeiten und erhalten ein Feedback. Sodann erhalten auch sie ein Bild zum Ausmalen.

  1. Sicherungsphase: Anhand der ausgemalten Kirchen/Moscheen prüfe ich die im Video erwähnten Begriffe (Turm/Minarett, Geistliche etc.)

  1. Abschluss: Wir thematisieren im Plenum, dass Arabersein nicht automatisch bedeutet, dass man Muslim ist, da viele Araber Christen sind, und dass ein respektvoller Umgang miteinander für ein harmonisches Zusammenleben wichtig ist.

3. Gaca Radetinać: Ein kleines Beispiel für Lernerorientierung und meine Rolle als Lerncoach

Gaca Radetinać stammt aus Bosnien. Sie lebt in Karlskrona (Schweden) und ist dort seit vielen Jahren als Muttersprache-Lehrerin für Bosnisch/Kroatisch/Serbisch tätig.

In meinem Unterricht versuche ich, mich möglichst zurückzunehmen und die Schüler/innen so viel wie möglich selber aktiv werden zu lassen. Das geht auch bei relativ «konventionellen» Lektionen. Diese Art Unterricht kenne ich von meiner Ausbildung her nicht unbedingt. Sie ist aber die einzig mögliche, da die Schüler/innen von der schwedischen Schule her an diese Art zu arbeiten gewöhnt sind. Ich habe diese Art Unterricht und die veränderte Lehrer/innenrolle hier in Schweden kennengelernt, auch bei Gesprächen und Unterrichtsbesuchen bei schwedischen Kolleg/innen.

Thema der Lektion (Doppelstunde)

Die Kinderrechte

Klassenstufe

2.–6. Klasse (die Älteren arbeiten an einem anderen Projekt); 14 Schüler/innen.

Hintergrund und Ziele

Ungeachtet der Frage, ob man in einem Wohlfahrtsland wie Schweden oder in einem armen Land lebt, kommt es vor, dass es Kindern übel ergeht. Meistens kennen sie auch die UNICEF-Kinderrechtskonvention zu wenig. Jede Schule trägt die Verantwortung, die Kinder über ihre Rechte aufzuklären; in Schweden verlangt das sogar das Schulgesetz.

Für eine HSU-Lehrerin ist es wichtig, den Schüler/innen diese Informationen auch in ihrer Erstsprache zu vermitteln und sie mit ihnen zu diskutieren.

Material


  • Ca. 20–30 Bilder (z. B. aus Zeitschriften oder aus dem Internet) von Kindern mit verschiedenen Gesichtsausdrücken: fröhlich, traurig, apathisch etc.

  • Fünf Zettel mit Diskussionsimpulsen («beschreibt die Stimmung der Kinder auf euren Bildern mit je mindestens drei Adjektiven; überlegt euch, wa- rum sich die Kinder so oder so fühlen; erfindet zu einem der Bilder eine kleine Geschichte, die hilft, den Gesichtsausdruck zu verstehen!»).

  • Kopien der wichtigsten Artikel der Kinderrechtskonvention, möglichst in einer vereinfachten Fassung (siehe Internet).

Ablauf der Lektion


  1. Ich informiere die Klasse kurz über Thema und Ziel der Lektion.

  1. Ich lege die 20–30 Bilder auf dem Boden aus, ein oder zwei Kinder helfen mir dabei.

  1. Die Kinder bilden Zweiergruppen. Jedes Team sucht sich 2–3 Bilder aus und erhält ein Blatt mit Diskussionsimpulsen und dem Auftrag, nach 10 Minuten kurz zu berichten, was es herausgefunden hat. (Bei der Bildung der Teams schaue ich darauf, dass sprachlich schwächere Kinder mit einem sprachlich stärkeren Kind zusammenarbeiten.)

  1. Ca. 10 Min. Diskussion und Notieren in den Teams.

  1. Ich bilde zwei Kreise, einen mit drei und einen mit vier Teams (= 14 Schüler/innen). In den beiden Kreisen zeigen die Teams einander ihre Bilder und was sie dazu herausgefunden haben. (Es ist nicht nötig, dass alle alles hören, deshalb zwei Kreise.) Ich bleibe als Zuhörerin im Hintergrund.

  1. Kurzer Input von mir zur Kinderrechtskonvention: Was ist das, seit wann gibt es sie, etc.

  1. Jedes Kind erhält ein Blatt mit den Kinderrechten (http://unicef.se/barnkonventionen). Die Kinder bilden Dreiergruppen und suchen sich je drei Rechte aus, die sie diskutieren und dann den anderen vorstellen wollen (was verlangt dieses Recht, welche konkreten Beispiele fallen uns dazu ein etc.). Ich schaue, dass alle Rechte mindestens einmal behandelt werden.

  1. Präsentationen im Plenum.

  1. Ich weise auf die neue App «Alla Barns Rätt» (Alle Kinderrechte) hin und empfehle, sie zu Hause anzusehen. Ausblick: Nächste Woche diskutieren wir weitere Rechte.

 


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