Judith Hollenweger, Rolf Gollob


Umgang mit Vielfalt und Anerkennung des Anderen


1. Einleitung

In den großen west-, mittel- und nordeuropäischen Einwanderungsländern, um die es in diesem Handbuch geht, herrscht weitgehend Konsens über eine Reihe pädagogischer und weltanschaulicher Punkte und Postulate. Gemeint sind etwa die Postulate der Chancengleichheit, der Gendergerechtigkeit (Gleichwertigkeit von Mädchen und Jungen; vgl. 4 B.2), der Erziehung zu Demokratie, der Wertschätzung von Vielfalt und Diversität auch im kulturellen und sprachlichen Sinne (vgl. 4 B.3), des möglichst nicht ideologisch geprägten Umgangs mit Themen und Inhalten etc. Selbstverständlich sind viele dieser Punkte auch in manchen oder allen Herkunftsländern akzeptiert oder umgesetzt. Mit Blick auf den Verwendungskontext des vorliegenden Handbuchs – Orientierungshilfe für HSU-Lehrer/innen in den Einwanderungsländern – beschränken wir uns aber auf die in diesen Ländern akzeptierten Standards und Kernpunkte.

Die nachfolgenden Ausführungen gehen auf einige Kernpunkte und zentrale Forderungen ein; weitere werden u. a. in den Kapiteln 5 und 9 behandelt.


2. Gesellschaftliche Erwartungen an die Schule

Bildung befähigt Menschen, sich eigenverantwortlich am gesellschaftlichen Leben zu beteiligen, es mitzugestalten und zu bereichern. Bildungsbemühungen sind deshalb auch immer im Kontext sozialer, politischer und ökonomischer Verhältnisse und Entwicklungen zu verstehen. Staaten haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wer wie viel und welche Bildung benötigt.

Ist es schlimm, wenn Mädchen nach der obligatorischen Schulzeit keine weitere Ausbildung absolvieren? Wie sehr soll sich die Schule für den Schulbesuch starkmachen, wenn Eltern aus bestimmten Kulturen oder Schichten diesen als wenig wichtig erachten? Muss das Bildungsministerium etwas unternehmen, wenn Kinder aus Minoritäten den Zugang zu höheren Bildungsgängen nicht finden?

Wenn die Beteiligung bestimmter sozialer Gruppen an der Gestaltung der Gesellschaft nicht gewünscht oder als unbedeutend erachtet wird, wird meist auch weniger in die Bildung dieser Gruppen investiert. So bleibt die gesellschaftliche Struktur erhalten und die bestehenden Benachteiligungen werden an die nächste Generation weitergegeben.

Wenn allerdings nicht mehr nur die Sozialstruktur, die Familie und die Herkunft die gesellschaftliche Position vorbestimmen, ist für das Individuum die Zukunft grundsätzlich offen (Hradil, 2008, S. 89). Das ist heute ein großes Anliegen demokratischer Gesellschaften, die mehr auf eine nachhaltige Entwicklung der Humanressourcen und weniger auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen setzen. Bildung erhöht dann die soziale Mobilität und eröffnet Chancen des sozialen Aufstiegs. Eine möglichst gute Bildung für alle Kinder und Jugendlichen zu sichern, ist deshalb in post-industriellen Gesellschaften sehr wichtig. Wenn eine hohe Wertschöpfung vor allem mit hochqualifizierten Arbeitnehmenden erreicht wird, hat die Gesellschaft ein großes Interesse, allen begabten jungen Menschen den Zugang zu einer möglichst guten Bildung zu ermöglichen. Gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger wollen sich auch am politischen Leben beteiligen können. Somit kann die politische, soziale und ökonomische Kontrolle nicht mehr in der Hand einer kleinen Elite liegen; alle Mitglieder einer Gesellschaft müssen Verantwortung für das Wohlergehen aller übernehmen (Turowski, 2006, S. 447).

Alle west-, mittel und nordeuropäischen Einwanderungsländer sind Demokratien mit einem mehr oder weniger liberalen Staatsverständnis, das sowohl auf die Eigenverantwortlichkeit wie auch auf die Bereitschaft zur Mitgestaltung ihrer Bürgerinnen und Bürger setzt. Je nach dem Typus der Demokratie (direkte Demokratie, repräsentative Demokratie etc.) werden Probleme eher vor Ort oder aber zentral angegangen und werden eher lokale oder aber nationale Lösungen entwickelt. In der Schweiz (als Beispiel einer direkten Demokratie) solidarisieren sich starke Kantone mit den schwächeren durch Transferzahlungen; die Sozialversicherungen sichern die Lebensgrundlagen der Schwächsten. So wird ein Ausgleich geschaffen und das Zusammenleben zwischen verschiedenen Gruppen, Sprach- und Kulturregionen ermöglicht. Unabhängig vom Staat engagieren sich in den meisten Ländern viele Menschen für die Zivilgesellschaft. So sind etwa viele Vereine im sozialen Bereich tätig und setzen sich für andere Menschen ein. Sie leisten dort Hilfe und Unterstützung, wo vorhandene Probleme nicht in den staatlichen Zuständigkeitsbereich fallen oder die Probleme nicht wirksam durch Interventionen des Staates gelöst werden können (Emmerich, 2012).

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde in vielen Ländern die obligatorische staatliche Volksschule eingerichtet, so z. B. auch im Kanton Zürich (Schulgesetz von 1832). Damit übernahm der Staat die Verantwortung für die Bildung aller Kinder aus sämtlichen sozialen Schichten. Wie stolz die Gemeinden und Kantone damals auf diese neue Aufgabe waren, lässt sich heute noch in den repräsentativen Schulbauten aus dieser Zeit erkennen. Damals ging es um den Kampf gegen die Kinderarbeit und die Vermittlung grundlegender Kenntnisse, heute sind gesellschaftliche Aufgaben und Bildungsauftrag komplexer geworden. Damals waren die Aufgaben der Schule und Familie klar getrennt (Bildungsauftrag/ Erziehungsauftrag), heute müssen diese stärker ineinandergreifen und sich gegenseitig unterstützen. Geblieben ist der Auftrag, die soziale Kohäsion der Gesellschaft und die Qualifizierung der Kinder und Jugendlichen zu sichern (Tröhler & Hardegger 2008).

Vor diesem gesellschaftlichen und historischen Hintergrund müssen die heutigen Bildungsbemühungen in den genannten Einwanderungsländern verstanden werden.

Die Schule muss im Sinne der Chancengleichheit bzw. -ähnlichkeit nicht nur sicherstellen, dass alle Schüler/innen, unabhängig von ihrer Herkunft, eine möglichst gute Ausbildung erhalten. Sie muss auch soziale und gesellschaftliche Werte vermitteln. Die Mehrstimmigkeit der heutigen Bevölkerung spiegelt sich dabei auch im Schulalltag wider; alle Beteiligten sind aufgefordert, einen konstruktiven Beitrag zu leisten.

Dabei sind Wahrung der Wertschätzung und Anerkennung entscheidende Prinzipen. Sie erfordern den aktiven, respektvollen Umgang mit kultureller und sprachlicher Vielfalt. Es geht dabei um Leistung und um Solidarität, um das Interesse des Individuums und das Wohl der Gemeinschaft, um Fordern und Fördern. «Bildung ist ein multidimensionales Unterfangen, und die Dimensionen müssen einander in Schach halten», wie Prisching (2008, S. 226) feststellt. Dies muss einerseits durch die Weiterentwicklung der Schule, andererseits durch die Sicherung individueller Rechte aller Schüler/innen erreicht werden.


3. Demokratie leben – was bedeutet das für die Schule?

Wer von Demokratie im Zusammenhang mit Schule spricht, denkt meistens zuerst an Fragen rund um mögliche Unterrichtsinhalte. Was sollen die Schüler/innen lernen, was sollen sie über die Strukturen der Demokratie wissen? Welche Inhalte haben in welchen Fächern Platz? Dabei steht das deklarative Wissen im Vordergrund: Es geht um Kenntnisse von Sachverhalten rund um Demokratie, also um das «Wissen, dass …». Als Zweites werden dann die Fragen der Teilhabe der Schüler/innen an der Organisation Schule erwähnt: rechtlich geregelte Schülervertretungen, die formale Mitbestimmung der Lehrpersonen oder die Vertretung der Eltern in diversen Gremien. Hier geht es um das «Wissen, wie …», also um prozedurales Wissen oder das Erfahren und Gestalten von demokratischen Handlungsabläufen. Demokratie ist aber auch ein Wert an sich, ein in allen west- und nordeuropä- ischen Einwanderungsländern positiv gewertetes Ziel.

Eine demokratisch ausgerichtete Schule will, dass Schüler/innen ein positives Verhältnis zur Demokratie entwickeln. Sie sollen demokratische Überzeugungen entwickeln können und die Schule soll dazu beitragen, dass die Lernenden selbst zu Demokrat/innen werden.

Es geht also auch um Bereitschaften und Fähigkeiten der verantwortungsvollen Nutzung demokratischer Grundsätze in der Gestaltung des Lebens.

Wenn wir Demokratie im Rahmen der Schule (wozu natürlich auch der HSU zählt) diskutieren, müssen wir immer an beide Aspekte denken: sowohl an die Unterrichtsinhalte als auch an die bestehenden Strukturen und Prozesse in der Schule. Und immer geht es auch zwingend um die Werthaltungen und Erwartungen, die in jeder einzelnen Schule, in jedem HSU-Kurs auf jeweils einzigartige Weise zum Ausdruck gebracht und erlebbar werden (Retzl, 2014).

Demokratie ist also ein Sachverhalt, den es zu beschreiben gilt. Andererseits ist Demokratie ein Wert, den wir aus Überzeugung vertreten und praktisch im Unterricht realisieren wollen. Inhalte können vermittelt werden, ihnen werden Stunden zugeteilt und die Lernergebnisse können überprüft werden. Werte mit Sachverhalten gleichzusetzen, wäre jedoch ein großer Fehler. Werden Werte als Unterrichtsinhalt vermittelt, kommt es zur Indoktrination. Werte haben ihre Basis in der Erfahrung. Demokratie als Wert ist zwingend auf diese Erfahrung angewiesen. Ein Unterricht, eine Schule, die diese Werte nicht in der Gestaltung des Unterrichts selbst erfahrbar macht, sollte letztlich auch darauf verzichten, Demokratie als Sachverhalt zu unterrichten (Krainz, 2014).

Ein großes Missverständnis wäre es zu fordern, dass Schule Demokratie simulieren müsse. Das kann und soll sie nicht. Schule hat eine klare Struktur und klar verteilte Rollen. Schule ist ein Instrument der Demokratie und gleichzeitig ein Lebensfeld für kommende Demokrat/innen, in dem altersadäquat, entwicklungsangemessen und situationsspezifisch Verantwortungs- übernahme und Partizipation erlebt und eingeübt werden. Mit anderen Worten: Schüler/innen sollen im Laufe ihrer Schulzeit (inklusive HSU!) einen demokratischen Habitus erwerben, der über die Schule hinaus Bestand hat. Für die konkrete Umsetzung sollen Handlungsbereiche gewählt werden, in denen demokratische Handlungskompetenzen der Individuen und demokratische Schulqualität entwickelt und erlebt werden können.

Von großer Bedeutung im Kontext Schule ist selbstverständlich der Unterricht. Unterricht wird von Lernenden als Ort und Rahmen für Aushandlungsprozesse und Feedback erfahren, als Ort der Kooperation, in dem Lernende und Lehrpersonen im Geiste gegenseitiger Anerkennung miteinander umgehen. Kinder- und Menschenrechte beispielsweise sind Bausteine einer demokratiepädagogisch motivierten schulischen Praxis (vgl. die Links in den Literaturhinweisen).

Schulprojekte eignen sich bestens, um die gemeinsame Planung, eine gleichberechtigte Beteiligung, eine gemeinsam abgestimmte Organisation sowie eine transparente Evaluierung und Bewertung zu trainieren und zu ermöglichen. Demokratiepädagogisch wertvoll sind oft Projekte, die dem Ansatz des Lernens durch Engagement, dem sogenannten Service Learning, zugehören (Beispiel: gemeinsames Projekt einer Ausstellung und eines Verkaufs von Handarbeiten zugunsten eines Hilfsprojekts). Wie auch immer Inhalt und Ziel gewählt sind, im Zentrum muss stets der Prozess der Gestaltung stehen, ist er doch von sich aus bereits demokratieförderlich. Solche Projekte ermöglichen den Schüler/innen persönliche Erfahrungen und Leistungen und sollen wenn immer möglich in Form eines Portfolios dokumentiert und zertifiziert werden.

Eine gesamte Schuleinheit kann ohne große Veränderung von der Basis her demokratisch gestaltet werden. Macht ist legitimiert, Lösungen werden mit den Mitteln von Kommunikation, Delegation und Repräsentation gemeinsam gesucht. Die Schule öffnet sich aber auch zur Gesellschaft und zeigt den Lernenden, wie man sinnvolles Handeln in der aktuellen Lebenswelt mit projektbegleitendem Unterricht verknüpfen kann. Solche gemeinwesenorientierten Vorhaben sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das aktive Handeln zugleich zum Gegenstand des Unterrichts machen. Welcher Art die Umsetzung demokratischer Prinzipien in den Ländern, im Bildungswesen und in den einzelnen Schulen ist, in denen die HSU-Lehrer/innen arbeiten, und welche Unterrichtsmaterialien dort verwendet werden, finden Sie am besten im Gespräch mit den lokalen Kolleg/innen heraus.

Als bestens auch für den Einsatz im HSU oder für übergreifende Projekte geeignete Materialien verweisen wir auf die Reihe EDC/HRE ‹Living Democracy› des Europarates, die je nach Band bereits in bis zu 10 verschiedenen Sprachen erschienen ist und als Buch bezogen oder aus dem Internet gratis heruntergeladen werden kann (http://www.coe.int/t/dg4/education/edc/Resources/Resources_for_teachers_en.asp).


4. Vielfalt gemeinsam leben – Diversität und Inklusion

Wie Kap. 4 A.3 zeigte, soll Bildung junge Menschen nicht nur befähigen, ihre Persönlichkeit zu entwickeln, vielmehr sollen sich diese auch an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv beteiligen. Eine demokratische Gesellschaft lebt von ihrer Vielstimmigkeit, von der Auseinandersetzung mit der Meinung des Anderen und dem Einbezug aller in die Findung tragfähiger Lösungen. Sie lebt aber auch von der gemeinsamen Verpflichtung aller auf ein Staatsverständnis, auf gemeinsame Werte und auf die Respektierung der Interessen von Minderheiten. Daraus ergeben sich in allen Lebensbereichen Spannungen zwischen Verschiedenheit und Gleichheit, die es konstruktiv zu bearbeiten gilt. Die Volksschule als staatstragende Institution kann sich dieser Dynamik nicht entziehen und ist aufgefordert, einen sinnvollen Umgang damit zu entwickeln. Sie hat den Auftrag, einen Beitrag zur sozialen Kohäsion der Gesellschaft zu leisten und gleichzeitig das persönliche Recht jedes Kindes auf Bildung zu sichern. Diversität und Inklusion sind deshalb zentrale Konzepte für die Bearbeitung von Verschiedenheit in der Schule (Ainscow et al., 2006).

Die Verwendung des Begriffs «Ungleichheit» bedeutet eine Betonung und Bewertung von Unterschieden; die Termini «Verschiedenheit» bzw. «Diversität» hingegen erkennen Unterschiede an, ohne sie gleichzeitig zu bewerten. Die in der heutigen Diskussion allgemein anerkannte Kategorie Diversität bedeutet eine bewusste Auseinandersetzung mit Verschiedenheit und Vielfalt. Merkmale wie Geschlecht, Alter, Nationalität, Ethnizität, Sprache, soziale Situation, sexuelle Orientierung, Gesundheitszustand resp. Behinderung dienen zur Beschreibung von Diversität. Dabei sollen Minderheiten nicht nur geduldet und zur Anpassung bzw. Assimilation aufgefordert werden. Vielmehr werden Betroffene zu Beteiligten gemacht und Problemlösungen – wo es denn Probleme gibt –gemeinsam bearbeitet. Der Begriff «Inklusion» bezieht sich auf diesen Prozess und hat in der Schule primär die Bewältigung von Problemen und Schwierigkeiten beim Lernen und bei der Beteiligung zum Ziel. Während bei der Kategorie «Integration» vor allem eine Anpassungsleistung der Minderheiten erwartet wird, wird mit dem aktuelleren Terminus «Inklusion» ein aktiver Beitrag aller zu gemeinsamen Lösung gefordert (Vojtová, et al., 2006). Eine inklusive Schule setzt sich somit aktiv mit Diversität auseinander und sichert einen gerechten Zugang zu Bildung für alle. Gleichzeitig hat sie hohe Qualitätsanforderungen an sich selber und hohe Erwartungen an alle Schüler/innen (Nasir u. a., 2006).

Warum werden Schüler/innen mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich häufig sonderpädagogischen Maßnahmen zugewiesen? Wie kann es sein, dass sozial benachteiligte Jugendliche am Ende ihrer Schulzeit kaum etwas an Bildung mitnehmen können? Warum ist vielerorts noch ein weiter Weg bis hin zur Chancengleichheit oder nur schon -ähnlichkeit zurückzulegen (vgl. auch Kap. 4 B.1)? Weshalb haben die Bildungsambitionen der Eltern so einen prägenden Einfluss? Diese Fragen stehen am Anfang von Schul- und Unterrichtsentwicklungsprozessen hin zu einer inklusiven Schule. Mit dem neuen Volksschulgesetz im Kanton Zürich – um ein Beispiel zu nennen – wurde verstärkt auf integrative sonderpädagogische Maßnahmen gesetzt, um den negativen Folgen segregativer Förderung entgegenzuwirken. Manche Schulen setzen auf alters- oder niveaudurchmischte Lerngruppen, um eine stärkere Personalisierung des Unterrichts zu erreichen. Durch die Schaffung von Elterngremien und die Intensivierung der Elternzusammenarbeit versuchen Schulen, für alle Schüler/innen ein tragfähiges Netz der gemeinsamen Verantwortung zu schaffen. Das Projekt «Bildungslandschaften» der Jacobs-Stiftung und der Bildungsdirektion des Kantons Zürich (vgl. Linkliste in den Literaturhinweisen) geht sogar noch einen Schritt weiter und bezieht auch außerschulische Stellen mit ein. Ganz konkret geht es aber auch um den Abbau bestehender Hürden und Hindernisse, wie sie auch heute noch Kinder mit Behinderungen tagtäglich begegnen.

Eine inklusive Schule entwickelt sich nicht nur ständig weiter, sondern setzt sich jeden Tag für die Respektierung der individuellen Rechte aller Kinder und Jugendlichen ein. Grundlage sind nicht nur die Kinderrechte der Vereinten Nationen, sondern auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die in der Behindertenrechtskonvention festgehalten sind. Die meisten west- und nordeuropäischen Einwanderungsländer haben beide Konventionen unterzeichnet und ratifiziert. Diese Konventionen sichern nicht nur eine unentgeltliche Bildung für alle Kinder und Jugendlichen, sondern fordern die Schule auch auf, mögliche Nachteile auszugleichen, die durch Herkunft, Behinderungen oder Gesundheitsprobleme entstehen können. Grundsätzlich muss das Bildungsangebot den Voraussetzungen des Kindes angepasst werden, denn gleiche Rechte bedeutet nicht, allen das Gleiche anzubieten. Solche «Homogenitätsprämissen» müssen heutige Lehrpersonen aufgeben können zugunsten eines stärker personalisierten Verständnisses von Lernen. Dabei müssen sie sich insbesondere auch mit ihren eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen auseinandersetzen (Bloch, 2014).

HSU-Lehrer/innen können zu den Zielen der Chancengleichheit und Inklusion wertvolle Beiträge in Bezug auf ihre Schüler/innen leisten. Dies kann einerseits im Unterricht selbst durch gezielte Förderung und Lerner/innenorientierung geschehen (vgl. hierzu auch Kap. 5 A.2), andererseits außerhalb des Unterrichts durch Gespräche und Beratungen mit den Eltern und mit den Lehrer/innen des regulären Unterrichts (siehe Kap. 12).


5. Lehren und Lernen als gemeinsamer Problemlöseprozess

Wenn die Schüler/innen nicht mehr alle zur gleichen Zeit das genau Gleiche tun, kann die Lehrperson nicht mehr ausschließlich von einem Lehrbuch und einem fixen Lehrplan oder Curriculum ausgehen. Die oben beschriebene Personalisierung und Demokratisierung von Bildung zeigt sich nicht nur in der Unterrichtsgestaltung der Lehrpersonen, sondern auch in den Lehrmitteln und den Lehrplänen der west-, mittel- und nordeuropäischen Einwanderungsländer. In der Unterrichtsgestaltung wird darauf geachtet, dass Schüler/innen neben angeleiteten Sequenzen auch Möglichkeiten zum selbstgesteuerten Lernen erhalten (Kiper & Mischke, 2008). Lehrmittel arbeiten verstärkt mit komplexeren Aufgabenstellungen, welche verschiedene Tätigkeiten erfordern und mittels unterschiedlicher Sozialformen und Werkzeuge bearbeitet werden können. Aktuelle Lehrpläne – so etwa der sich in Entwicklung befindende Lehrplan 21 für die deutschsprachigen Kantone der Schweiz – sind auf Kompetenzen ausgerichtet, die es in variablen Situationen zu erwerben und anzuwenden gilt. Statt klarer Vorgaben zum Input, also zu dem, was den Schüler/innen zu bieten ist, wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf den Output, also auf die Bildungsergebnisse, gerichtet (vgl. hierzu auch Kap. 5 A.1).

Lernen wird gemäß dem aktuellen, breit akzeptierten Verständnis als aktiver und interaktiver Prozess verstanden. Mit der Informationsaufnahme werden zwar erste Voraussetzungen fürs Lernen geschaffen, doch dann muss der bzw. die Lernende sich um Verstehen bemühen.

Das Wissen muss verknüpft werden, damit es für die Lösung komplexer Fragen verwendet werden kann. Und nach der Bewältigung einer Aufgabe muss das Erreichte überprüft und evaluiert werden. Lehren und Lernen müssen sich dabei so ergänzen, dass sie gemeinsam zur Lösung von Problemen beitragen können. Die Lehrperson hilft bei der Wahl alters- und interessenadäquater Fragen und Themenstellungen, bei der Entwicklung des Problemverständnisses und bei der Förderung der Motivation der Lernenden, das gestellte Problem anzugehen und zu lösen. Die zur Lösung notwendigen Informationen, Kenntnisse und Fertigkeiten werden gemeinsam erarbeitet; die Lehrperson unterstützt so viel wie nötig und bietet Strukturierungshilfen. Sind die Grundlagen erarbeitet, geht es an die konkrete Planung. Ist der zielführende Weg gefunden worden, führt die Schülerin oder der Schüler die erforderlichen Handlungen durch und prüft dann das erzielte Ergebnis. Die Lehr-Lern-Prozesse greifen ineinander und das Zusammenspiel bietet den Schüler/innen ein ihren Bedürfnissen angepasstes Maß an Strukturierungshilfe, Autonomieunterstützung und Zugehörigkeitsgefühl (Rohlfs, 2011). All dies gilt selbstverständlich auch für den HSU und lässt sich in dessen Lektionen ebenso gut umsetzen wie im Regelunterricht.

Schwierigkeiten beim Lernen und in der Interaktion können jederzeit auftreten und sollen möglichst schnell angegangen werden, bevor die Kinder entmutigt sind oder sich negative Interaktionsmuster verfestigen. Besonders häufig im HSU sind Probleme in Zusammenhang mit der Standardvariante und dem Leseverständnis in der Erstsprache, da viele Schüler/innen diese nur in einer dialektalen Variante sprechen und kaum in der Erstsprache lesen oder schreiben (vgl. hierzu auch Kap. 8). Hier ist die Fähigkeit der Lehrperson zentral, Schwierigkeiten früh wahrzunehmen und richtig zu verorten. Dabei soll primär einmal von den spezifischen Lernsituationen ausgegangen werden, die einem Kind Probleme bereiten können. Oft liegt die Ursache darin, dass das Kind bestimmte Kompetenzen noch nicht erworben hat, (von zu Hause oder vom Regelunterricht her) an andere Interaktionsstile gewöhnt ist oder unterschiedliche Lernstrategien verwendet. Zeigen Kinder trotz eines personalisierten Bildungsangebots anhaltende Probleme in der Schule, werden vielerorts sogenannte schulische Standortgespräche durchgeführt (vgl. Linkliste in den Literaturhinweisen, je nach Region variiert der Terminus). Sie haben den Zweck, die Sichtweisen aller Betroffenen zusammenzubringen, eine Analyse der Situation des Kindes vorzunehmen und gemeinsam Ziele zu setzen, die dann Grundlage für die Planung von Maßnahmen sind. Aufgrund der Ergebnisse des schulischen Standortgesprächs wird in der Regel eine Förderplanung vorgenommen. Nach einer gemeinsam festgelegten Zeit wird das Gespräch wiederholt und die Ziel- erreichung überprüft. Das Verfahren des schulischen Standortgesprächs wird vielerorts auch durchgeführt, wenn Schüler/innen Unterricht in der Landessprache als Zweitsprache benötigen. Es versteht sich, dass die HSU-Lehrer/innen wertvolle Partner/innen bei solchen Standortgesprächen sein können.

Die hier beschriebene stärkere Personalisierung von Bildung bedeutet auch, dass das gesamte Potenzial eines Kindes seitens der Schule und der Lehrperson anerkannt und geschätzt wird. Es wird also nicht mehr nur von einzelnen Eigenschaften oder Fähigkeiten ausgegangen, die für den Schulunterricht als nützlich erachtet werden.

Um als verantwortungsvoller Mensch in einer offenen Gesellschaft handlungsfähig zu werden, muss das Individuum mit all seinen Begabungen gefördert werden. Dazu gehört auch eine bessere Nutzung der beim Kind verfügbaren Ressourcen, wozu etwa seine Erstsprache, sein spezifischer kultureller Hintergrund und seine bisherigen Lebenserfahrungen zählen.

Im Unterschied zu falsch verstandener «Individualisierung» zielt «Personalisierung» dabei nicht auf eine Vereinzelung der Bildung, sondern auf eine Berücksichtigung der Person des Kindes sowie seiner Rechte, Verantwortlichkeiten und Pflichten (OECD, 2006). Dabei sind alle Kinder und Jugendlichen als gleichwertig anzuerkennen (Emmerich & Hormel, 2013). Nicht ihre Nützlichkeit als gute Schüler/innen steht im Zentrum, sondern ihr Kompetenzerwerb und ihre Entwicklung. Mit den Begriffen «Diversität» und «Inklusion» wird der hier beschriebene Wandlungsprozess umfassend umschrieben. Ohne die Anerkennung von Verschiedenheit wird Inklusion zu einer Zwangsmaßnahme, aber ohne Inklusion steht Diversität für Beliebigkeit und Gleichgültigkeit. Erst beide zusammen weisen der demokratischen Schule den Weg in die Zukunft, der von allen Betroffenen und Beteiligten gemeinsam gestaltet werden muss.


Literaturhinweise

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Hradil, Stefan (2008): Sozialstruktur und gesellschaft- licher Wandel. In: Oscar W. Gabriel; Sabine Kropp (Hrsg): Die EU-Staaten im Vergleich. Struk-turen, Prozesse, Politikinhalte (3. Aufl.). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 89–123.

Kiper, Hanna; Wolfgang Mischke (2008): Selbstre- guliertes Lernen – Kooperation – Soziale Kompetenz. Fächerübergreifendes Lernen in der Schule. Stuttgart: Kohlhammer.

Krainz, Ulrich (2014): Religion und Demokratie in der Schule. Analysen zu einem grundsätzlichen Spannungsfeld. Wiesbaden: Springer VS.

Nasir, Na’ilah Suad; Ann S. Roseberry; Beth Warren; Carol D. Lee (2006): Learning as a Cultural Pro- cess. Achieving Equity through Diversity. In: R. Keith Sawyer (Ed.), The Cambridge Handbook of Learning Sciences. Cambridge: Cambridge University Press, S. 489–504.

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Retzl, Martin (2014): Demokratie entwickelt Schule. Schulentwicklung auf der Basis des Denkens von John Dewey. Wiesbaden: Springer VS.

Rohlfs, Carsten (2011): Bildungseinstellungen. Schule und formale Bildung aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Prisching, Manfred (2008): Bildungsideologien. Ein zeitdiagnostischer Essay an der Schwelle zur Wissensgesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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Turowski, Jan (2006): Voraussetzungen, Differenzen und Kongruenzen Sozialer Demokratie. In: Thomas Meyer; Jan Turowski: Praxis der Sozialen Demokratie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis- senschaften, S. 447–485.

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Links

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Projekt Bildungslandschaften Jacobs-Stiftung: http:// bildungslandschaften.ch

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Verfahren Schulische Standortgespräche, Bildungsdi- rektion Kanton Zürich: http://www.vsa.zh.ch/inter- net/bildungsdirektion/vsa/de/schulbetrieb_und_un- terricht/sonderpaedagogisches0/ssg/formulare_ ssg.html


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