Wiltrud Weidinger


1. Einführung

Die gesellschaftlichen Paradigmen und bildungspolitischen Schwerpunkte, wie sie im vorhergehenden Kapitel erläutert wurden, prägen die Schulsysteme in Mittel-, Nord- und Westeuropa. Sie stellen eine Art Leitlinie dafür dar, nach welchen Grundsätzen und gemäß welchem Rollenverständnis Schule und Unterricht in diesen Ländern funktionieren. Wie Unterricht aussehen soll und aus welcher Perspektive man die Schüler/innen sieht, ist abhängig vom Menschenbild, auf das sich ein Schulsystem und eine Gesellschaft beziehen. Als ideologische Säulen, auf denen die Bildungs- und Schulsysteme in den genannten Ländern aufbauen, lernten wir in Kap. 4 das Bekenntnis zu Chancengerechtigkeit, Integration, Interkulturalität und Mehrsprachigkeit, zu inklusiver Bildung, Erziehung zu Demokratie und Partizipation an der Gesellschaft kennen. All dies beeinflusst direkt oder indirekt die Sichtweise auf die Schüler/innen, auf die Lehrperson und auf das Verständnis von Lernen und davon, was das Ziel und die Inhalte von Schule eigentlich sein sollen.

Im vorliegenden Kapitel werden die in der Schul- und Unterrichtskultur Mittel-, West- und Nordeuropas wichtigsten erziehungs- und schulbezogenen Qualitätskriterien dargestellt. Sie sind gemäß drei diesbezüglich wesentlichen Bereichen bzw. Perspektiven gegliedert:

  • Sichtweise auf den Schüler/die Schülerin
  • Sichtweise auf die Lehrperson
  • Verständnis von Lernen und Unterricht

 


2. Sichtweise auf die Schülerin/den Schüler

Lerner/innenorientierung

Unterricht an den Schulen in den genannten Einwanderungsländern folgt in aller Regel dem Prinzip der Lerner/innenorientierung. Dieses geht davon aus, dass sich Unterricht in seiner Struktur, in der Auswahl der Inhalte und in der Organisation an den Bedürfnissen der Schüler/innen ausrichten muss. Schüler/innenorientierung heißt, von der Individualität der Lernenden auszugehen, bzw. die Schüler/innen als Individuen mit einer eigenständigen Persönlichkeit anzuerkennen (Helmke, 2012).

Im schülerorientierten Unterricht werden die Schüler/innen unabhängig von ihren Lernleistungen und ihrem Erfolg als Persönlichkeiten ernst genommen und wertgeschätzt.

Dies bedeutet, dass die Interessen, die Biografie und die Hintergründe, die Lebenssituation und die speziellen Bedürfnisse der Lernenden wahrgenommen und respektiert werden. All dies wirkt sich positiv auf Selbstvertrauen und Lernmotivation der Schüler/innen aus. Zugleich hat es einen positiven Effekt auf die Beziehung zwischen der Lehrperson und den Lernenden, indem sich diese in einem lernerorientierten Unterricht wohler und als Person ernst genommen fühlen. Es bedeutet auch, dass die Schüler/innen sich nicht nur für fachliche, sondern auch für andere Fragen und Probleme an die Lehrperson wenden können. Neben der Bildungsfunktion kommt damit auch die Erziehungsfunktion verstärkt zum Tragen.

Neben dieser emotional-affektiven Dimension geht ein lernerorientierter Unterricht in seiner Planung und Durchführung von der jeweiligen Entwicklungsstufe der Lernenden aus und bezieht dabei deren Vorwissen, Ausgangslage, Erfahrungen und Lebenswelt mit ein.

Die Lernenden werden als handelnde, aktive Subjekte gesehen – und nicht als bloße Objekte der Lehrperson oder des Unterrichtsprogramms.

Ein zentrales Postulat ist denn auch, dass die Lernenden im schüler/innenorientierten Unterricht möglichst umfassend zu eigener Aktivität angeregt werden sollen. Daraus resultiert, dass die Lehrperson bei diesem Unterrichtskonzept nicht mehr im Zentrum des Unterrichts steht, sondern den Unterricht von den Lernenden her, mit ihnen gemeinsam und auf die Lernenden hin plant und gestaltet (Wiater, 2012). Oder, wie es Helmke (2012) sagt: Lernerorientierter Unterricht zeichnet sich dadurch aus, dass die Unterrichtsbeteiligung der Schüler/innen hoch ist und diese aktiv ins Geschehen miteinbezogen werden. Gegenüber dem traditionellen lehrerzentrierten Unterricht, wie ihn manche Lehrer/innen des herkunftssprachlichen Unterrichts von ihrer eigenen Schul- und Ausbildungszeit her noch kennen, stellt die veränderte Rollendefinition im lernerzentrierten Unterricht einen prägnanten Unterschied dar; vgl. hierzu unten den Abschnitt «neues Rollenverständnis: Lerncoach und -moderatorin».

Förderorientierung

Wenn sich der Unterricht an den Lernenden orientiert, betrifft dies auch die Sichtweise auf deren Leistungen und auf die Art, wie diese Leistungen beurteilt werden. Allerdings müssen Lehrpersonen, wenn sie zum individuellen Können der Lernenden beitragen wollen, über ein ausreichendes Maß an diagnostischem Wissen und ebensolchen Fähigkeiten verfügen. Und sie müssen fähig sein, das Anspruchsniveau von Aktivitäten und Problemstellungen im Unterricht, wie auch jenes der Fragen und Aufgaben, die zu lösen sind, auf die Lernenden und ihre Voraussetzungen abzustimmen. Gerade im Falle der leistungs- und oft auch altersmäßig sehr heterogenen Klassen des HSU bedeutet dies, dass Aufgabenstellungen und Fragen zur Leistungskontrolle immer wieder auf verschiedenen Niveaus bzw. für verschiedene Leistungsniveaus formuliert werden müssen (siehe hierzu auch unten «Differenzierung und Individualisierung» sowie Kap. 6).

Um Schüler/innen optimal unterstützen zu können, muss ein förderorientierter Unterricht die Leistungen und Fortschritte der Lernenden unter einer individuellen und lernzielbezogenen Perspektive betrachten und beurteilen.

Beurteilung findet im förderorientierten Unterricht nicht nur summativ, sondern stets auch formativ statt.

Das heißt, dass Leistungen über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet, kommentiert und mit den Lernenden besprochen werden. Eine förderorientierte Beurteilung impliziert aber auch, dass Lernziele klar gesetzt werden und auch für die Lernenden transparent sind. Zugleich bedeutet Förderorientierung, dass möglichst alle Beteiligten einbezogen werden: Lernende, Eltern, Lehrkräfte des Regelunterrichts und andere Fachpersonen.

Kap. 7 befasst sich ausführlich mit dem Thema der förderorientierten Leistungsbeurteilung; als gute und auch für den HSU praxistaugliche Handreichung mit Modellen, Checklisten etc. verweisen wir auf die Broschüre von Nüesch et al. (vgl. die Literaturhinweise).

Kompetenzorientierung

Wegweisend für den Unterricht in vielen Ländern Mittel-, West- und Nordeuropas ist seit rund einem Jahrzehnt das Prinzip der Kompetenzorientierung. Dies bedeutet:

  • Die von den Schüler/innen zu erreichenden Ziele werden in Form verschiedener Kompetenzbereiche und -stufen dargestellt. Bezugspunkt für das schulische Lernen sind also nicht mehr ein Themenkanon oder inhaltliche Ziele, die abgearbeitet werden müssen, sondern eine Reihe von aufeinander aufbauenden Kompetenzen, die die Schüler/innen erwerben sollen.
  • Der Lernstand und die Fortschritte der Schüler/innen werden anhand der Leistung erfasst, die sie mit Bezug auf eine bestimmte Kompetenzstufe erbringen (oder «performen»: Statt von Leistung spricht man oft eher von Performanz).

In der Unterrichtswissenschaft existieren einige Definitionen dessen, was alles zu «Kompetenzen» gehört. Die im deutschsprachigen Raum am meisten verwendete stammt von Franz E. Weinert: «Kompetenzen sind die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen [durch den Willen bestimmten] und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.» (Weinert, 2014). Es geht also nicht nur um Faktenwissen, sondern mehr noch um die Fähigkeit, Probleme zu lösen, und schließlich auch um die hierfür notwendige Einstellung und Motivation. In der Didaktik unterscheidet man in diesem Zusammenhang zwischen fachlichen und überfachlichen Kompetenzen. Zu den fachlichen Kompetenzen werden all jene gezählt, die in engem Zusammenhang mit einer Schuldisziplin stehen; mit Bezug auf den HSU also z. B.: «Die Schüler/innen kennen am Ende des dritten Schuljahrs das Schriftsystem ihrer Erstsprache und sind fähig, einfache Mitteilungen in derselben zu notieren». Als überfachliche Kompetenzen werden Fähig- und Fertigkeiten angesehen, die für die Bewältigung des Lebens notwendig sind und die nicht ausschließlich im Zusammenhang mit einer Schuldisziplin stehen. Hierzu gehören beispielsweise personale Kompetenzen (Eigenständigkeit, Reflexion etc.), soziale (Kooperationsfähigkeit, Konfliktfähigkeit etc.), aber auch methodische (Kommunikationsfähigkeit, Problemlösefähigkeit etc.). Es versteht sich, dass der Aufbau all dieser Kompetenzen auch im HSU geschehen kann und soll.

Die Forderung nach Kompetenzorientierung passt bestens zu jener nach Lerner/innen- und Förderorientierung. Zusammenfassend können wir sagen, dass sich kompetenzorientierter Unterricht durch die folgenden Merkmale auszeichnet (vgl. Lersch, 2010, und Meyer, 2013):

  • Kognitive Aktivierung der Schüler/innen durch anspruchsvolle, aber gut aufeinander abgestimmte Aufgaben
  • Vernetzung des neu Gelernten mit vorhandenem Wissen und Können
  • Intelligentes Üben
  • Suche nach geeigneten Anwendungssituationen
  • Individuelle Begleitung der Lernprozesse
  • Reflexion des Lernfortschritts durch die Schüler/innen (Metakognition)

3. Sichtweise auf die Lehrperson

Bedeutung von Klassenführung (Classroom Management)

Das effiziente Führen einer Klasse ist eine der Vorbedingungen für einen qualitativ hochstehenden Unterricht. Die Klassenführung bildet den zeitlichen und motivationalen Rahmen für den Unterricht; sie trägt dazu bei, dass unnötige Störungen und Chaos vermieden werden. Aus der internationalen Forschung weiß man, dass ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Klassenführung und dem Ausmaß besteht, in dem Schüler/innen Lernfortschritte machen. In diesem Sinne weist auch die umfangreiche Metaanalyse von Hattie (2013) nach, dass bei gut organisierten Klassen und einem hohen Engagement der Lehrpersonen im Bereich Classroom Management ein klarer (mittlerer bis hoher) Effekt auf die Lernleistung von Schüler/innen besteht. Diesbezüglich wichtige Faktoren sind auch die innere Einstellung von Lehrpersonen (Motivation, Engagement) und das Ausmaß von deren Fähigkeit, Verhaltensprobleme von Schüler/innen zu erkennen und auf sie zu reagieren.

Zentral für die konkrete Arbeit im Bereich Klassenführung/Classroom Management auch im HSU sind die folgenden Punkte (vgl. Woolfolk, 2008):

  • Gute Vorbereitung des Klassenraumes (Materialien, Sitzordnung, Organisatorisches etc.)
  • Möglichst hohe und konstante Aktivierung aller Schüler/innen durch attraktive, handlungsorientierte Aufgabenstellungen; Schein-Aktivitäten erkennen und umkanalisieren
  • Klare, plausible, am besten gemeinsam vereinbarte Regeln und Verhaltensweisen festlegen und zugänglich machen (z. B. Plakat mit Klassen- oder Gesprächsregeln aufhängen)
  • Konsequenzen für unangemessenes Verhalten festlegen; mit Disziplinproblemen ohne großes Theater und ohne Unterbrechung des Unterrichts umgehen
  • Als Lehrperson keine Unsicherheiten oder Unentschiedenheit ausstrahlen
  • Für einen flüssigen Ablauf des Unterrichts sorgen, sachlogische Brüche und unnötige Unterbrechungen im Unterrichtsfluss vermeiden

Anstöße zur Reflexion des eigenen Führungsverhaltens finden sich unten bei den Impulsen zur Reflexion, Diskussion und Vertiefung (5 C, v. a. Impuls 6 und 7). Wer diesem Aspekt vertieft nachgehen möchte, sei verwiesen auf die Publikation von Meier et al. (2011): Schülerinnen und Schüler kompetent führen; Zürich: Verlag Pestalozzianum.

Neues Rollenverständnis: Lerncoach und -moderatorin

Kompetenz- und lernerorientierter Unterricht bedeutet für die Schüler/innen, in hohem Maße aktiv zu sein. Damit dies möglich ist, muss die Lehrperson geeignete Lernaktivitäten planen (evtl. auf verschiedenen Niveaus!), die Lernenden bei ihren Aktivitäten begleiten und bei Bedarf aktiv unterstützen. Lehrpersonen nehmen dabei immer mehr die Rolle von «Lern-Coaches» ein, d. h. von Initiator/innen, Unterstützer/innen und Evaluator/innen von Lernprozessen; immer weniger stehen sie in der traditionellen Rolle von Dozent/innen.

Um diesem veränderten Rollenkonzept zu genügen, muss die Lehrperson zunächst den Lernbedarf und die Voraussetzungen der einzelnen Schüler/innen einschätzen können (s. o. Förderorientierung). Weitere Aufgaben bestehen darin, Lernsituationen inhaltlich und didaktisch anregend zu planen, Lernwege zu entwickeln, Lernaufgaben auszuwählen, den Lernprozess zu beobachten, zu begleiten und bei Problemen zu intervenieren. Begleitend und am Schluss einer Lernsequenz kommt das Erfassen des Lernerfolgs dazu (wer hat was gelernt; welche Ziele oder Kompetenzen müssen noch weiter vertieft werden; welche Bewertungen oder Noten sind eventuell zu geben?).

Darüber hinaus geht es darum, in Gesprächen mit den Schüler/innen deren Lernen zu reflektieren und die Ergebnisse zu dokumentieren. Hierzu werden heute Möglichkeiten wie das Führen eines Lernjournals oder das Gestalten eines Portfolios genutzt, in dem repräsentative Arbeiten gesammelt werden. Beides lässt sich gut auch im HSU umsetzen.

Wesentlich bei der Begleitung von Lernprozessen ist es, die Lernenden zum Nachdenken über ihr eigenes Lernen anzuregen, sie auf ihre Stärken, aber auch auf ihre Entwicklungspotenziale hinzuweisen und ihnen entsprechende Lernangebote zu machen. Zu dieser Facette der Lernbegleitung gehört auch das explizite Vermitteln von Strategien, die den Lernenden helfen sollen, ihr Lernen zu optimieren. Lernstrategien können dabei direkt das Lernziel und die zu erlernenden Kompetenzen fokussieren (z. B. Strategien der Textüberarbeitung, des Nachschlagens im Wörterbuch oder des Suchens im Internet) oder indirekt das Lernen selbst fördern (Strategien zur Planung der Arbeit, zur Bildung von Lerntandems etc.). Speziell auf die Arbeit mit Lernstrategien im HSU geht Heft 5 der vorliegenden Reihe «Materialien für den HSU» ein.

All dies bedeutet natürlich auch, dass sich der Kontakt und die Kooperation zwischen der Lehrperson und den Lernenden anders und deutlich partnerschaftlicher und intensiver gestalten als im herkömmlichen Unterricht, bei dem die Lehrperson vorwiegend dozierte und sich auf ihre Autorität als Amtsperson berief. Für Lehrpersonen des HSU, die in ihrer Heimat noch eher im traditionellen Rollenkonzept sozialisiert wurden, kann die Anpassung an das veränderte Rollen- und Kooperationsverständnis eine Herausforderung sein. Trotzdem müssen auch sie sich dessen bewusst sein, dass ihre Schüler/innen vom umliegenden Unterricht her meist an dieses neue Lehrer/innenbild gewöhnt sind. Damit sind sie kaum mehr bereit, einem Unterricht zu folgen, der allzu lehrerzentriert und traditionell-autoritär geführt wird.


4. Verständnis von Lernen und Unterricht

Konstruktivistischer Ansatz

In den meisten Schulen Mittel-, West- und Nordeuropas wird von einem sogenannt konstruktivistischen Lernverständnis ausgegangen. Dieses basiert auf zwei zentralen Grundannahmen (vgl. Woolfolk, 2008):

      • Die Lernenden sind aktive Subjekte im Lernprozess und «konstruieren» sich ihr eigenes Wissen (sie entwickeln auf der Basis ihres Alltagswissens z. B. ihre eigenen Vorstellungen und «Modelle» zum Wechsel von Tag und Nacht, zu Krieg oder zum Gefälle reich – arm).
      • Soziale Interaktionen sind wichtig für diesen Prozess der Wissenskonstruktion.

Das konstruktivistische Lernverständnis geht davon aus, dass der Lernende die Umwelt eigentlich nur als Anregung und Matrix seiner Entwicklung braucht. Die wesentlichen Impulse für sein Lernen hingegen gehen von ihm selbst aus. Gemäß diesem Verständnis suchen Schüler/innen aktiv nach dem, was ihnen in der Umwelt zum Problem wird («Warum wird es am Abend dunkel?», «Warum leben so viele Menschen aus meinem Land in der Migration?»), um mit der Lösung des Problems Erkenntnis aufzubauen. Lernen wird also als ständige Neuorganisation von Wissens- elementen verstanden. Die vom Lernenden selbst aufgebauten und vorhandenen Strukturen werden bei jedem neuen Lernprozess oder -schritt erweitert, umgruppiert oder gänzlich neu konstruiert.

In der konstruktivistischen Didaktik haben der Aufbau und die Anwendung von Wissen und Kompetenzen den Vorrang gegenüber dem Speichern, Abrufen und Reproduzieren von Fakten, Konzepten und Fertigkeiten (Woolfolk, 2008). Als Lernziele setzt eine konstruktivistische Didaktik die Entwicklung von Problemlösefähigkeiten, kritischem Denken, der Bereitschaft, Fragen zu stellen, Selbstbestimmung und Offenheit für verschiedene Lösungswege ins Zentrum. Aus konstruktivistischer Sicht können folgende Empfehlungen für den Unterricht gegeben werden:

  • Das Lernen soll in komplexe, realistische und relevante Lernumgebungen und Fragestellungen eingebettet werden; diese regen die Lernenden bei der eigenen «Wissenskonstruktion» und beim entdeckenden Lernen an.
  • Die Lernenden sollen darin unterstützt werden, verschiedene Perspektiven und Gesichtspunkte einzunehmen und zu diskutieren. Dazu sollen ihnen möglichst auch verschiedene inhaltliche Zugänge zu einem Thema geboten werden. Desgleichen sollen Gelegenheiten zu fairer Diskussion und Austausch eingeplant werden.
  • Die Lernenden sollen im Bewusstsein unterstützt werden, dass sie selbst für ihr Lernen und für dessen Qualität verantwortlich sind (dies bedeutet zugleich eine Stärkung des Ich-Bewusstseins und des Verständnisses, dass Lernen konstruiert wird).

Bloße Wissens- und Faktenvermittlung, wie sie den traditionellen Unterricht kennzeichnet, rückt damit stark in den Hintergrund. Dies fordert auch von den Lehrpersonen des HSU ein Umdenken, was die Planung von Lernaufgaben betrifft. Statt «Lernt die folgenden Pflanzen- und Tiernamen auswendig» heißt die Aufgabe dann vielleicht: «Diskutiert und notiert in Dreiergruppen, welche Pflanzen und Tiere in welchem ‹Stockwerk› des Waldes eine besonders wichtige Rolle spielen; macht ein kleines Plakat dazu».

Selbstständigkeit und eigenverantwortliches Lernen

Unterricht in den Schulen West-, Mittel- und Nordeuropas fokussiert im Rahmen des konstruktivistischen Lernverständnisses auch die wichtige Dimension der Selbstständigkeit und der Eigenverantwortung für das Lernen. Zentral ist hier der Begriff des selbstregulierten Lernens. Gemeint ist damit, dass die Lernenden ihren Lernprozess und dessen Fortschritt (inkl. z. B. Arbeit an Hausaufgaben und längerfristigen Projekten wie einem Vortrag) selbst steuern (regulieren) und überwachen. Im gleichen Sinne bedeutet eigenständiges Lernen, dass Schüler/innen im Unterricht selbstbestimmt über verschiedene Aspekte ihres eigenen Lernens Entscheidungen treffen können und für diese auch verantwortlich sind.

Diese Entscheidungen betreffen vor allem die folgenden Bereiche:

Lernziele: Was muss/will ich können?
Lerninhalte: Was muss/will ich wissen/ lernen?
Lernmethoden: Wie lerne ich das, welche Methoden und Strategien verwende ich?
Lernmedien: Welche Hilfsmittel verwende ich dafür?
Zeitlicher Rahmen: Wie viel Zeit nehme ich mir dafür oder habe ich zur Verfügung?
Αrbeitstempo: Wie schnell arbeite ich?
Lernpartner/in: Arbeite ich alleine? Arbeite ich mit einem/r Partner/in? Oder in der Gruppe?

In der Schulrealität werden Lernziele und Lerninhalte meistens vorgegeben, während die Lernenden über Zeit, Tempo, Lernpartner und teilweise auch über die Wahl der Lernmethode selbst bestimmen können. Dies ist gut auch im HSU möglich, wenn dieser offen und lernerorientiert angelegt ist (vgl. auch Kap. 6). Eine große Bedeutung kommt beim selbstständigen Lernen den oben bereits erwähnten Lernstrategien zu. Diese sind Voraussetzung dafür, dass Lernende ihr Lernen selbstständig und eigenverantwortlich planen, organisieren und steuern können. Desgleichen ist es für das selbstständige und selbstregulierende Lernen und für den Aufbau der Kompetenz zur Selbsteinschätzung natürlich sehr förderlich, wenn seitens der Lehrperson Lernziele und Lerninhalte auf verschiedenen Anspruchsniveaus angeboten werden, unter denen die Schüler/innen selbstständig das für sie Passende heraussuchen (Beispiel: Texte zur Türkei im 19. Jahrhundert in drei verschiedenen Schwierigkeitsgraden; Lernkontrolle zur Landwirtschaft in Italien auf drei Anspruchsniveaus).

Lebensweltbezug

Unterricht, der sich an den Bedürfnissen der Lernenden orientiert, muss in der Auswahl seiner Inhalte möglichst nah an der gegenwärtigen und zukünftigen Lebenswelt der Schüler/innen sein. Dies bedeutet, Inhalte so auszuwählen, dass sie für die Lernenden aktuell und bedeutungsvoll sind. Wolfgang Klafki hat dies bereits vor über 50 Jahren treffend als Frage formuliert: «Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt bzw. die an diesem Thema zu gewinnende Erfahrung, Fähigkeit oder Fertigkeit bereits im geistigen Leben der Kinder meiner Klasse, welche Bedeutung sollte er – vom pädagogischen Gesichtspunkt aus gesehen – darin haben?» (Klafki, 1958). Aber nicht nur die Gegenwartsbedeutung ist relevant für die Auswahl der Inhalte, sondern auch die Bedeutung der verschiedenen Themen für die Zukunft der Schüler/innen.

Es liegt an den Lehrkräften, Inhalte zu wählen, die sowohl hinsichtlich der Gegenwarts- wie auch der Zukunftsbedeutung relevant und lebensnahe sind.

Das Postulat, Unterrichtsinhalte in Bezug zur Lebenswelt der Schüler/innen zu stellen, bedeutet eine hohe Anforderung an die Lehrpersonen, an ihre Fachkompetenz und an ihren Informationsstand über die Lebenswelt, Probleme und Voraussetzungen der Lernenden. Für die Lehrer/innen des HSU bedeutet dieses Postulat vor allem Folgendes: zu bedenken, dass ihre Schüler/innen in der Migration aufwachsen – in und zwischen zwei Kulturen und mit einem Erfahrungshintergrund, der sich von demjenigen der Schüler/innen im Herkunftsland deutlich unterscheidet. Themen wie «Leben auf dem Bauernhof», «Märchen und Sagen», «Ich in 20 Jahren», «Minderheiten» etc. müssen anders angegangen werden, wenn sie im Regelunterricht z. B. in Kroatien oder aber im kroatischen HSU in der Schweiz oder in Österreich behandelt werden. Im zweiten Falle sind unbedingt die zusätzlichen Erfahrungshintergründe und Kompetenzen der bikulturell aufwachsenden Kinder, aber auch ihre oft schwächeren Kenntnisse der Herkunftssprache und -kultur zu berücksichtigen. Dazu kommt, dass eine Reihe von Themen, die im Herkunftsland traditionell und etabliert sind (z. B. patriotische oder historische Themen), im Migrationskontext deutlich weniger relevant sind – wohingegen hier Themen wie «Leben in und zwischen zwei Kulturen», «Minderheiten» etc. sehr aktuell und bedeutungsvoll sind.

Altersgemäßheit

Wie bereits im Abschnitt «Lerner/innenorientierung» erwähnt, soll sich die Gestaltung des Unterrichts am Entwicklungsstand der Schüler/innen, an der Zusammensetzung der Lerngruppe und an der individuellen Persönlichkeit der Schüler/innen orientieren. Insbesondere im Mehrklassenunterricht, wie er für den HSU charakteristisch ist, gewinnt daneben auch die Dimension der Altersgemäßheit an Bedeutung. Lernende in mehrklassigen Lerngruppen, die sich altersheterogen zusammensetzen und müssen aus entwicklungspsychologischer Sicht wie auch angesichts ihrer bisherigen Lernerfahrungen unterschiedlich und individuell gefördert werden.

Ein Schüler der ersten Klasse kann und möchte etwas anderes bearbeiten als eine Drittklässlerin.

Eine rein quantitative Differenzierung nach Menge der zu bearbeitenden Aufgaben reicht hier in aller Regel nicht aus; vielmehr geht es um eine qualitative Auswahl altersgemäßer Inhalte und Methoden.
Eine besondere Herausforderung stellt sich im HSU dadurch, dass das Alter und die erstsprachliche Kompetenz der Schüler/innen oft stark voneinander abweichen. Beispielsweise kann es vorkommen, dass ein Sechstklässler, der den HSU erst seit zwei Jahren besucht, die Erstsprache deutlich schlechter liest und schreibt als eine Drittklässlerin aus bildungsnahem Elternhaus. Trotzdem kann man dem Sechstklässler deswegen keine unterfordernden Kleinkindertexte zu lesen geben, da ihn dies kränken und demotivieren würde. Stattdessen braucht er sprachlich vereinfachte Versionen von inhaltlich altersgerechten Texten und viel persönliche Unterstützung.

Differenzierung und Individualisierung

Als logische Konsequenz der Forderungen nach einem Unterricht, der sich an den Lerner/innen, an deren Voraussetzungen, Interessen, Bedürfnissen und Alter orientiert (siehe oben), ergibt sich das seit gut 30 Jahren aktuelle Postulat, Unterricht zu differenzieren und zu individualisieren. Bildlich gesprochen:

Statt allen Schüler/innen dasselbe Einheitsmenü aufzutischen, das sie in derselben Zeit und im selben Umfang konsumieren und verdauen sollen (was eine totale Illusion wäre), soll jede/r Schüler/in dasjenige Menü bekommen, das für ihn/sie gut, verdaubar und förderlich ist.

Das klingt anspruchsvoll und ist es auch, insbesondere für Lehrer/innen, denen diese Konzeption von ihrer eigenen Ausbildung her wenig bekannt ist. Zugleich haben sich Individualisierung und Differenzierung mittlerweile in der Praxis und auch in den Lehrmitteln derart durchgesetzt, dass es kaum mehr Lehrer/innen gibt, die nach dem klassischen frontalen Einheitsmodell unterrichten. Selbstverständlich wurden dabei im Regel- wie auch im herkunftssprachlichen Unterricht Wege und Lösungen gefunden, die realistisch und praktikabel sind: In einer Klasse mit 20 Schüler/innen können und müssen nicht 20 individuelle Lernprogramme ausgearbeitet werden, vielmehr reicht es vorerst, wenn z. B. Lesetexte oder Schreibaufträge auf drei oder vier Anspruchsniveaus zur Verfügung gestellt werden, so dass die Kinder mit etlicher Wahrscheinlichkeit etwas für sie Passendes finden. Statt von vollständiger Individualisierung kann man hier eher von innerer Differenzierung des Unterrichts (in verschiedene Niveau- und Altersgruppen) sprechen. Dazu kommt – nicht in Bezug auf den HSU, sondern auf das staatliche Schulsystem – die äußere Differenzierung in verschiedene Schultypen vor allem auf der Stufe Sekundarschule I (Gymnasium, Sekundarschule mit erweiterten bzw. mit beschränkten Anforderungen; Sonderschulen etc.).

Als Lehrperson hat man direkten Einfluss auf die innere Differenzierung, d.h. man kann und soll Lernangebote so planen, dass sie hinsichtlich ihres Schwierigkeitsgrades, ihrer Komplexität, ihrer Bearbeitungsdauer und ihrer Bearbeitungsform von den Lernenden in je unterschiedlicher Weise genutzt werden können. Im Grunde wird dabei der Klassenverband in dem Sinne aufgelöst, dass sich jede/r Lernende mit den für sie/ihn geeigneten Lernangeboten auseinandersetzen kann und dadurch bestmöglich gefördert wird. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von «adaptivem Unterricht», der sich an den individuellen Schüler/innenmerkmalen und Lernvoraussetzungen orientiert und den Unterricht wie auch die Lernaufgaben, Lernhilfen, Materialien, Medien etc. entsprechend anpasst.

Ausblick

Die in Kapitel 5 behandelten Dimensionen von Unterricht entsprechen wesentlichen Kernpunkten der aktuellen Pädagogik und Didaktik in den Einwanderungsländern von Mittel-, West- und Nordeuropa. Selbstverständlich ist die Aufzählung nicht abschließend, zumal sich Pädagogik und Didaktik ja dynamisch weiterentwickeln. Wesentlich hervorzuheben ist vor allem ein Element, das immer wieder erscheint, jedoch nicht explizit erörtert worden ist: die Motivierung der Lernenden.

Jeglicher Unterricht hat die Aufgabe, einen positiven Lernanstoß zu geben und die Lernenden zum Handeln und zur Aktivität anzuregen.

Die angeführten Kernpunkte zielen alle in diese Richtung und sehen die Gestaltung von Unterricht unter diesem Blickwinkel. Nur wer für sein Lernen motiviert ist, kann auch Eigenverantwortung übernehmen, kann sich selbst Ziele setzen, kann sein Lernen planen und reflektieren und Agent seiner eigenen Lerntätigkeit werden. Durch eine entsprechende Gestaltung des Unterrichts seitens der Lehrperson und durch deren Engagement für die Förderung von Kenntnissen, Kompetenzen und Einstellungen der Schülerinnen und Schüler – kurz: für die Förderung von deren Persönlichkeit – kann dies erreicht werden.


Literaturhinweise

Hattie, John (2013): Lernen sichtbar machen. Überarbeitete deutsche Ausgabe von «Visible Learning». Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren.

Helmke, Andreas (2012): Unterrichtsqualität und Lehrerprofessionalität. Diagnose, Evaluation und Verbesserung des Unterrichts. (4. Aufl.) Seelze- Velber: Klett/Kallmeyer.

Klafki, Wolfgang (1958): Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Die deutsche Schule, Heft 10, S. 450–471.

Lersch, Rainer (2010): Wie unterrichtet man Kompe- tenzen? Didaktik und Praxis kompetenzfördern- den Unterrichts. Wiesbaden: Hessisches Kulturmi- nisterium. Institut für Qualitätsentwicklung. Link: http://didaktik.mathematik.hu-berlin.de/files/2010_lersch_kompetenzen.pdf

Mandl, Heinz; Helmut F. Friedrich (2006): Handbuch Lernstrategien. Göttingen: Hogrefe.

Meier, Albert et al. (2011): Schülerinnen und Schüler kompetent führen. Aufbau von grundlegenden Führungskompetenzen für Lehrpersonen. Ein Arbeitsheft. Zürich: Verlag Pestalozzianum.

Meyer, Hilbert (2013): Was ist guter Unterricht? (9. Aufl.) Berlin: Cornelsen Scriptor.

Nüesch Birri, Helene; Monika Bodenmann; Thomas Birri (2008): Fördern und fordern. Schülerinnen- und Schülerbeurteilung in der Volksschule. St. Gallen: Kantonaler Lehrmittelverlag. Link: edudoc.ch/record/32505/files/foerdernfordern.pdf

Weinert, Franz E. (2014): Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel: Beltz.

Wiater, Werner (2012): Unterrichtsprinzipien. Prüfungswissen–Basiswissen Schulpädagogik. (5. Aufl.) Donauwörth: Auer.

Woolfolk, Anita (2008): Pädagogische Psychologie. München: Pearson Studium.


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