1. Aufwachsen in, mit und zwischen mehreren Sprachen: HSU-Schüler/innen berichten

Nuhat lebt in Deutschland

Mein Name ist Nuhat. Ich bin 12 Jahre alt und in Deutschland geboren. Mit meiner Familie zusammen lebe ich in Münster im Stadtteil Hiltrup. In meiner Freizeit spiele ich gerne Fußball, ich bin auch in einem Fußballverein aktiv. Wenn ich mich mit meinen Freunden treffe, höre ich gerne kurdische Musik und spiele Playstation. Meine Freunde sind überwiegend aus Kurdistan und Deutschland. Außerdem habe ich russische und polnische Freunde. Ich habe drei Geschwister und bin das «Mittelkind». Meine Eltern leben seit 1985 hier. Wir leben in einem Mehrgenerationenhaus, da meine Großeltern auch bei uns im Haus wohnen. Meine Großeltern sprechen kein Deutsch. Ich wiederum spreche schlecht Kurdisch. Wegen dieser Kommunikationsschwierigkeiten ist mir der muttersprachliche Unterricht sehr wichtig. Denn zu Hause sprechen wir Kurdisch. Meine größeren Geschwister können das auch sehr gut, ich aber leider nicht so. Ich selbst bin mit der kurdischen und deutschen Sprache aufgewachsen. Mit meinen kurdischen Freunden spreche ich sowohl Kurdisch als auch Deutsch. Aber mit den nichtkurdischen Freunden unterhalten wir uns auf Deutsch. Ansonsten begegne ich in meinem Umfeld der russischen, polnischen, englischen, arabischen und italienischen Sprache.

Marlene lebt in der Schweiz

Mein Name ist Marlene Pinto. Ich bin 13 Jahre alt und besuche zurzeit die 7. Klasse in Frauenfeld. Ich bin in der Schweiz geboren und lebe auch hier. Zu Hause spreche ich nicht nur Portugiesisch, sondern auch Schweizerdeutsch. Schweizerdeutsch spreche ich vor allem mit meiner Schwester und in meiner Freizeit mit Freunden. Ich gehe seit meinem 7. Lebensjahr wöchentlich in die portugiesische Schule. Auch wenn es an meinem einzigen freien Nachmittag ist, freue ich mich jedes Mal darauf, da ich gerne eine weitere Sprache spreche. Diese Sprache ermöglicht es mir, mit meinen Verwandten zu sprechen und mich z. B. in Ländern wie Portugal oder Brasilien zurechtzufinden. In der Schule lerne und spreche ich nicht nur Hochdeutsch, sondern auch Englisch und Französisch. Ein Vorteil meiner Zweisprachigkeit ist, dass ich mir bei diesen Fremdsprachen viele Wörter vom Portugiesischen her gut einprägen kann, da sie oft ähnlich sind. Sprachen spielen in meinem Leben eine große Rolle, daher ist auch Englisch eines meiner Lieblingsfächer.

Vanessa lebt in Schweden

Ich heiße Vanessa, bin 14 Jahre alt und gehe in die siebte Klasse. Ich bin als Tochter albanischer Eltern in Schweden geboren und aufgewachsen. In der Schule lerne ich außer Schwedisch und Englisch auch Spanisch. Meine Lieblingssprache ist Albanisch. Das lerne und spreche ich nicht nur zu Hause, sondern auch im Albanischunterricht in der Schule. Wir haben super Bedingungen in unserer Schule: Alle Schüler/innen haben einen Laptop mit Internetzugang. Der Computer ist unser hauptsächliches «Werkzeug» im Unterricht. Auch im Albanischunterricht benutzen wir ihn, z. B. um auf albanischen Websites Material zu finden. Auf diese Weise ist es möglich geworden, eine Menge zu lernen und meinem Herkunftsland und den Verwandten in Kosova viel näher zu sein.

Arbër und Nora leben in Wien

Arbër und Nora haben im albanischen HSU ein Blatt mit dem Umriss eines Kindes und dazu die folgenden Aufträge erhalten: «Stell dir vor, das Kind auf dem Blatt wärest du. Überlege jetzt, welche Sprachen du selber sprichst oder in deiner Umgebung hörst. Wo im Umriss würde welche Sprache hinpassen? Zeichne sie mit verschiedenen Farben ein und schreibe daneben, welche Farbe zu welcher Sprache gehört.»

Abir lebt in England
(Bericht der Lehrerin Ola Koubayssi, London)

Abir wurde in London als Tochter einer französischen Mutter und eines sudanesischen Vaters geboren. Sie spricht fließend Französisch und Englisch. In den arabischen HSU ist sie gekommen, um die Sprache ihres Vaters – Arabisch – zu lernen.

Eines der Hobbys von Abir ist es, auf Französisch Geschichten zu lesen und zu schreiben. Ich schlug ihr vor, dass ich ihr kleine französische Texte bringen könnte, die ich ihr dann auf Arabisch übersetzen würde. Diese Idee motivierte sie sehr. Wir arbeiteten intensiv und inzwischen versteht, liest und schreibt sie Arabisch besser als die meisten anderen Schüler/innen in der Klasse. Im Sommer wird sie in den Ferien in den Sudan fahren und sich dort mit ihren Großeltern auf Arabisch unterhalten können!


2. Eine bittere Erfahrung: Verlust des Bezugs zur Erstsprache

Agnesa hat albanische Wurzeln und lebt in der Schweiz.

Mein Name ist Agnesa, ich bin 16 Jahre alt und in der Schweiz geboren. Meine Muttersprache ist Albanisch. Zurzeit besuche ich die Berufswahlschule. Mein größter Wunsch ist es, in den Ferien in meine Heimat zu gehen und die albanische Sprache zu beherrschen. Leider ist das nicht der Fall. Ich habe immer große Mühe, dort mit den Leuten zu kommunizieren, sei es im Einkaufszentrum, sei es auf der Straße. Ebenfalls fällt es mir schwer, mit meinen Bekannten schriftlich per SMS oder Facebook zu kommunizieren. Meistens muss ich überlegen, wie ich ein Wort vom Deutschen her übersetze oder wie ich einen Satz bilde. Oft schäme ich mich dafür, dass ich meine eigene Muttersprache nicht richtig beherrsche.

Ich wohne seit Langem hier in Buchs; leider gab es hier nie albanischen HSU. Das ist auch der Hauptgrund, dass ich heute in dieser Situation stecke. Hätte es albanischen HSU gegeben, hätte ich ihn mit Freude und Stolz besucht. Meiner Meinung nach hat jedes Kind das Recht darauf, seine Muttersprache zu lernen, weil das etwas Wichtiges ist und die Gesellschaft das braucht. Ich habe selbst schon miterlebt, dass man die eigene Muttersprache auch beruflich brauchen kann, denn welcher Jugendliche würde nicht gerne in einem Geschäft arbeiten, das eigenen Landsleuten gehört und wo man die eigene Sprache brauchen kann. Aber wenn man diese Sprache nicht genug beherrscht, gibt es diese Möglichkeit nicht…


3. Konkrete Planungsbeispiele zum Fokus «umfassende Sprachförderung»

Samia Hamdan-El Ghadban: Grundgerüst für die sprachliche Arbeit in einer Doppellektion HSU Hocharabisch, Unterstufe/Anfänger

Samia Hamdan-El Ghadban stammt aus dem Libanon und arbeitet in Genf als HSU-Lehrerin für Arabisch.


  1. 15 Min. Konversation/Klassengespräch; Thema von der Lehrerin oder von Schüler/innen ausgewählt. Ziel: Förderung des freien mündlichen Ausdrucks in ungezwungener Atmosphäre. Zugleich erleben die Schüler/innen verschiedene regionale und dialektale Formen des gesprochenen Arabisch.

  1. 15 Min. Repetition der bisher gelernten Schriftzeichen und Wörter. Einmal pro Monat Diktat.
    Ziel: Erwerb der arabischen Schrift und eines hocharabischen Wortschatzes.

  1. 35 Min. neues Lernpensum. Einführung eines neuen Schriftzeichens auf verschiedene methodische Arten. Lesen des neuen Zeichens mit verschiedenen Vokalisierungen und Lesen von Wörtern, in denen das neue Zeichen vorkommt. Ziele wie bei 2.

  1. 15 Min. Pause

  1. 25 Min. Gespräch über einen Schulbuchtext. Ziel: Arbeit an der mündlichen Kompetenz in Hocharabisch.

  1. 10 Min. Einzelarbeit (etwas ausfüllen, ausmalen etc.). Individuelle Betreuung durch die Lehrerin. Zum Schluss zeigt jedes Kind der Klasse, was es gemacht hat.

  1. 10 Min. Schluss: Lied (mit Hinweisen auf korrekte Betonung) oder Vorlese-Geschichte.

Etleva Mançe: Wortschatz- und Spracharbeit im Rahmen einer Doppellektion zum Thema «Essen und Trinken/gesunde Ernährung»; 1.–10. Klasse (3 Stufengruppen)

Etleva Mançe stammt aus Albanien. Sie lebt seit 22 Jahren in Köln und arbeitet seit fünf Jahren als HSU-Lehrerin für Albanisch.

Thema der Lektion: Essen und Trinken; Erfahrungsfeld: Gesunde Ernährung; Ziele: Sprachlich: Training und Festigung des Themenwortschatzes (Nomen für Obst und Gemüse); Anwendung; Verknüpfung Erst- und Zweitsprache. Inhaltlich: Bewusstsein für gesunde Ernährung und für Produkte aus dem Herkunftsland stärken. Sozial: Stärkung der Kooperations- und Sozialkompetenz bei den Gruppenarbeiten.

Planungsschema:

Phase / Zeit Unterrichtsgeschehen Medien, Materialien Methodisch- didaktischer Kommentar
10 Min. Einstieg
Überleitung
L begrüßt S. Alle S vorne im Kreis.
Einstieg ins Thema mithilfe eines Körbchens mit Obst und Gemüse. Alles auf Deutsch und Albanisch benennen.

L legt Kärtchen (Bilder und Namen [deutsch und albanisch] von Obst und Gemüse) durcheinander auf den Tisch.
S ordnen die Bild- und Namenkärtchen.

Körbchen mit Obst und Gemüse Kärtchen

Kontakt herstellen/ Neugier wecken

Vorwissen aktivieren Wortschatz aktivieren

Erst- und Zweitsprache verbinden

15 Min. Erarbeitung 1

5 Min. Sicherung 1

Jede/r S nimmt ein Gemüse oder Obst und sucht die entsprechenden Kärtchen (albanisch und deutsch). Dann werden die Namenkärtchen in die Kreise gelegt: links albanisch, rechts deutsch. In den Überschneidungsbereich kommen Wörter wie «Banane», die in beiden Sprachen ± identisch sind. Auch dialektale Varianten zu einzelnen Objekten (z. B. Kartoffeln) werden diskutiert.

Abschließend werden die Ergebnisse nochmals im Plenum betrachtet und diskutiert.

Kärtchen Körbchen Obst und Gemüse
2 Kreise, die sich teilweise überschneiden, am Boden

Bewusstmachung durch Anfassen und BeobachtungBegriffe verstehen und festigen

Unterschiede und Gemeinsamkeit der beiden Sprachen erkennen

20 Min. Erarbeitung 2 Es werden drei Altersgruppen gebildet.

  • Kl. 1–4: S bekommen ein Arbeitsblatt mit Bildern, Sätzen, Lösungs- wörtern (aus «Libri i gjuhës», S. 34–37). Differenzierung: Alternatives Arbeitsblatt.
  • Kl. 5–7: S erhalten einen Lesetext zum Thema, wo welches Obst
    und Gemüse hier und im Herkunftsland wächst. Differenzierung/ Alternative: Das Gedicht «Blega, dega dhe shega» lesen und schreiben (z. B. das Wort «shega» [Granatapfel] durch andere Obstsorte ersetzen).
  • Kl. 8–10: S erhalten ein Arbeitsblatt zu zwei Textabschnitten (anspruchsvoller Sachtext) und werden zu Expert/innen für ihren Abschnitt. Differenzierung: Lernschwächere S bekommen ein einfa- cheres Arbeitsblatt («Nëna në qytet sot ka blerë shëndet»).
    Auftrag: Den Inhalt mit eigenen Worten wiedergeben oder kommen- tieren.

Kl. 1–4 Arbeitsblatt

Kl. 5–7 Arbeitsblatt

Kl. 8–10 Arbeitsblatt

Partnerarbeit, sich gegenseitig kontrollieren

Überprüfung der Lese- und Schreibfähigkeiten. Partner-Feedback

Gruppenarbeit, Sozialkompetenzen entwickeln

Förderung der Teamfähigkeit

5 Min Pause
10 Min. Wiederholung und Sicherung 2

Die S vergleichen ihre Lösungen in der Stufengruppe.

Sie stellen die Ergebnisse im Plenum vor und diskutieren/kommentieren sie.

Arbeitsblatt

Meinung austauschen

Kontrolle

20 Min. Erarbeitung 3
  • Kl. 1–4: AB, Domino, Puzzle, S arbeiten alleine, zu zweit oder in der Gruppe.
  • Kl. 5–7: Die S erhalten ein Kreuzworträtsel in zwei Sprachen und zeichnen die Gesundheits-Pyramide.
  • Kl. 8–10: Anhand einer Mind-Map sollen die S über verschiedene Punkte sprechen.

Binnendifferenzierung: Lernschnelle S bekommen ein zusätzliches Arbeitsblatt.

Spiele Arbeitsblatt Mind-Map Kleine Plakate (A3)

Förderung der Teamfähigkeit und Sozialkompetenz

Schulung der Argumentationsfähigkeit

Festigung des Erlernten auf spielerische Weise

5 Min. Sicherung 3 Präsentation und Diskussion der Ergebnisse der vorigen Phase im Plenum auf kleinen Plakaten Arbeitsblatt Kleine Plakate (A3) Festigung; Stärkung des Selbstbewusstseins; Motivation
5 Min. Feedback S versuchen einen gemeinsamen Standpunkt/Konsens zu finden.
S geben ihre Selbsteinschätzung bezüglich ihrer Lernfortschritte ab. Mittels des Arbeitsblattes «Çfarë të pëlqen?» (Was magst du?) fragen sie sich gegenseitig und – als Hausaufgabe – auch die Familienangehörigen.
Arbeit
sblatt Smiley-Kärtchen (3 Smileys: fröhlich, mittel, traurig) S reflektieren
die neu erworbenen Kompetenzen

4. Rabie Perić Jašar: Gute Erfahrungen mit bilingualem Unterricht

Rabie Perić Jašar stammt aus Makedonien. Sie lebt seit 24 Jahren in Wien, wo sie u. a. als HSU-Lehrerin für Romanes und im Sonderpädagogischen Zentrum tätig ist.

Ich betreue neben meinem HSU-Unterricht in Romanes auch neu zugezogene Romakinder. Diese sind oft in ihrer Erstsprache Romanes sehr schwach, weil sie vor allem die Sprache des Herkunftslandes (z. B. Makedonisch) verwendet haben. Mein Prinzip ist, dass diese Kinder die deutsche Sprache parallel zu ihrer Muttersprache lernen sollen (z. B. parallele Einführung der Zahlen oder Farben, Lieder und kleine Theaterstücke auf Deutsch und Romanes). Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Kinder durch den parallelen Unterricht in Deutsch und Romanes ihre Muttersprache viel besser lernen.


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