Christoph Schmid


 1. Einleitung

Beurteilen, Einschätzen, Begutachten, Messen, Testen, Bewerten, Evaluieren, Taxieren, Benoten und Zertifizieren sind alltägliche schulische Tätigkeiten, die großen Einfluss auf Lernende haben. Sie bringen Anerkennung zum Ausdruck und regen den Wetteifer an; sie bereiten Freude und machen Angst, motivieren und demotivieren, stützen Selbstbewusstsein und zerstören Selbstvertrauen. Beurteilungen in der Schule beziehen sich auf Unterricht, Aufgaben, Leistungen, Lernfortschritte und zumeist auf die Lernenden selbst. In der Schulklasse beurteilen die Lehrpersonen die Schülerinnen und Schüler – und umgekehrt, allerdings mit unterschiedlichen Mitteln und Konsequenzen. Die Allgegenwart und Vielgestaltigkeit der Beurteilungsaktivitäten sind in der Schule mit unterschiedlichen Werthaltungen, unerfüllbaren Ansprüchen, Widersprüchen, Ideologien, Zwist, Unklarheiten und viel Arbeit verbunden.

Um Grundsätzliches besser sichtbar zu machen, informiert der folgende Text zunächst über anerkannte Postulate und Konstrukte. Daran schließen ausgewählte Komponenten einer pädagogischen Beurteilungsperspektive im Schulbereich an.


2. Beurteilen als Kultur und Kunst

Wissen und Können zu beurteilen ist wie Lehren eine Kunst und viel komplexer, als gängige Auffassungen unterstellen. Eingängige Praxisbeispiele, die blenden und für die vielfältigen Beurteilungsprobleme blind machen, gibt es zuhauf. Dies beginnt schon mit der problematischen Rede, es gelte Lernprozesse zu begleiten und zu beurteilen. Lernen ist ein höchst komplexes Konstrukt, das sehr Heterogenes umfasst. Mentales entzieht sich ebenso der direkten Wahrnehmung, Messung und Beurteilung wie der Begleitung. Den Sinnen partiell offenbaren sich Lerntätigkeiten, Lern- aktivitäten und die dabei beteiligten Emotionen. Wir benutzen Indikatoren, die auf Lernen und Gelerntes verweisen. Die Vielzahl potenzieller Indikatoren muss dabei stark vereinfacht und begrenzt werden.

Beim Beurteilen ist die Wahrnehmung gleichzeitig zu schärfen und zu reduzieren – ein großes Dilemma. Worauf soll sich die stets sehr begrenzte Aufmerksamkeit richten? Und wie soll man einschätzen, was sich der Wahrnehmung entzieht?

Die Ausschnitthaftigkeit, mit der man sich in der Praxis zu begnügen hat, ist im Hinblick auf Fairness und Akkuratheit der Beurteilungen folgenschwerer als die oft thematisierten Wahrnehmungsfehler oder wahrnehmungsverzerrenden Tendenzen wie z. B. der Haloeffekt, bei dem die Einschätzung eines Merkmals sich unbemerkt auf andere Merkmale überträgt, oder der Reihenfolgeeffekt, der dazu führt, dass vorangegangene Beurteilungen unwillkürlich die Beurteilung nachfolgender Leistungen beeinflussen.

Beurteilungshandeln im Schulalltag ist Teil der Umgangsformen mit Kindern und Jugendlichen. Damit gehört es zur Kultur der Schule und bringt Normen zum Ausdruck, die in einer Demokratie durch die Bürger/innen zu bestimmen sind (siehe z. B. Bildungsdirektion des Kantons Zürich, 2013). Handlungsvorgaben können wissenschaftlich analysiert, aber das Vorschreiben der Handlungen nicht der Wissenschaft aufgebürdet werden. Präskriptive Aussagen dürfen nicht mit wissenschaftlichen verwechselt werden. Was gut sein soll, ist im öffentlichen Diskurs auszuhandeln.


3. Das Spannungsfeld von Fördern und Auslesen

Lehrer/innen haben eine doppelte Verpflichtung: dem Kinde bzw. Jugendlichen und der Gesellschaft gegenüber. Oft spricht man in diesem Zusammenhang vom Widerspruch zwischen Fördern und Auslesen. Im Dienste der Gesellschaft zertifizieren Lehrpersonen Lernleistungen im Zeugnis mit einer Note und wirken bei der Selektion mit. Leistungseinschätzungen, Einstufungsurteile und Bildungslaufbahnempfehlungen beeinflussen die Berufschancen. Da auch jene Beurteilungen als Informationen für Laufbahnprognosen genutzt werden können, die eigentlich nur dazu dienen sollten, Lerntätigkeiten und Lernbedingungen zu optimieren, verbindet sich die primär dem einzelnen Lernenden verpflichtete Förderdiagnostik unter der Hand mit der Selektionsfunktion. Im weiten Vorfeld wichtiger Übertritte wird die Selektion nicht selten als «Damoklesschwert» wahrgenommen.


4. Beurteilungsfunktionen

Beurteilungen (assessments) sollen motivieren, disziplinieren und anderes mehr. Leicht lässt sich ein ganzes Dutzend verschiedener Funktionen oder Zwecke unterscheiden (Schmid, 2011, S. 239). Je nach Funktion kommt eine andere Einstellung zum Tragen und die konkreten Vorgehensweisen oder Formen variieren. Für einen Überblick ist die Fokussierung auf zwei bis drei Hauptfunktionen (siehe Grafik unten) hilfreich.

Grundlegend ist, ob die Beurteilung einer Verbesserung des Lernens dienen soll (Assessment for Learning) oder ob damit bewertet werden soll, über welches Wissen und Können jemand verfügt (Assessment of Learning). Wenn Beurteilungen vorgenommen werden, sollten die Beteiligten darüber informiert sein, ob damit Unterricht und Lerntätigkeiten optimiert oder persönliche Leistungen (Kompetenzen) erfasst und bescheinigt werden sollen. Grundsätzlich ist zu empfehlen: mehr förderorientiertes, formatives Beurteilen, «Assessment for Learning», und weniger «Assessment of Learning». Das gute Erreichen der gewünschten Kompetenzen muss im Zentrum bleiben. Das summative «Assessment of Learning» kann zwar motivieren und Wettstreit stimulieren, aber auch negative Auswirkungen auf das Lern- und Sozialverhalten und auf die Persönlichkeitsentwicklung haben.

In einer etwas anderen Unterscheidung lassen sich folgende drei Funktionen beschreiben:

 


  • Formative Beurteilung:
    Sie zielt darauf ab, die Lehr- und Lernaktivitäten optimal auf die Vorkenntnisse, Lernstrategien, Ziele, Bedürfnisse und Interessen der Lernenden auszurichten.

  • Summative Beurteilung:
    Sie erfasst und dokumentiert Informationen zum Kenntnisstand der Lernenden am Ende einer Lern- einheit oder einer Lernperiode.

  • Prognostische Beurteilung:
    Sie liefert Informationen für die Zuteilung zu bestimmten Schultypen und erstellt Prognosen für die Schullaufbahn.
    (Nach Allal, 2010, S. 348)

Ein typisches Beispiel für die summative Beurteilung ist die Gesamtnote, die Lehrpersonen des HSU am Ende des Semesters in einem offiziellen Attestformular oder Zeugnis eintragen. Diese Beurteilungsform prägt mancherorts das Schulklima stark in Richtung Konkurrenz und Wettstreit. Folgenschwer sind negative Prognosen, die zu früh gemacht werden. Lehrpersonen sollten in der Volksschule größte Zurückhaltung üben. Prognostische Beurteilungen sind in der Schule nur begrenzt möglich und zwangsläufig fehlerbehaftet.

Wenn es gelingt, den Schülerinnen und Schülern das Gefühl zu geben, dass die Beurteilungstätigkeit ihr Lernen voranbringt, ist das Hauptziel erreicht. Das leistet die formative Beurteilung (lat. ‹formare›: formen, gestalten).

Sie hängt eng mit den Konzepten der Selbstregulation und Metakognition zusammen, bei denen es darum geht, das eigene (Lern-)Verhalten zu überwachen, zu kontrollieren, zu beurteilen, zu regulieren und zu steuern. Formative Beurteilungen dienen der Lernregulation im weiten Sinne: Feedback, Selbstregulation, Regulation durch andere oder mit deren Hilfe (Ko-Regulation), Regulation durch Auswahl geeigneter Lernaufgaben, Lernkontexte und Lerntechnologien. Formative Beurteilung geht Hand in Hand mit der Regulation der Kognitionen, Emotionen, Motivation und des Verhaltens und verbessert nebst Lerntätigkeiten auch selbstregulative, metakognitive und lernstrategische Fähigkeiten.


5. Beurteilungsformen

Zur schulischen Alltagserfahrung gehört die Erfahrung, dass man nicht nur von anderen beurteilt wird, sondern dass man auch sich selbst beurteilt. Vielleicht ist die Schule jener Ort, an dem die häufigsten und vielfältigsten Beurteilungen erlebt werden. Das Zusammenspiel der verschiedenen Formen (siehe Grafik unten) ist dabei zentral, wenn Mündigkeit gefördert, Individualität geschätzt und Lernen systematisiert und intensiviert werden wollen.

In Zukunft werden in der Schule die beiden Formen «Beurteilung durch Mitschülerinnen und Mitschüler» (Peer-Assessment, Peerfeedback) sowie «Selbstbeurteilung» eine prominentere Rolle spielen.

Dies hängt mit einem weniger autoritätsakzentuierten Umgang und mit offeneren Unterrichtsformen zusammen, in denen Kinder und Jugendliche vermehrt selbstständig sowie kollaborativ in Gruppen und manchmal auch altersgemischt lernen. Beim selbstbestimmten Lernen entsteht die Notwendigkeit, Beurteilungen expliziter und in Eigenregie wahrzunehmen, und zwar in allen Phasen des Lernprozesses (Schmid, 2014, S. 313): 1. Orientierung, Zielsetzung (Bewertung der Erwartungen, Einschätzung der Bedeutsamkeit und des Lernaufwands), 2. Planung und Vorbereitung des Lernens (Bewertung früherer Lernerfahrungen, Einschätzung möglicher Lernwege), 3. Durchführung der geplanten Lernschritte und Lerntätigkeiten (Beurteilung der Lernstrategien, Einschätzung der Motivation) und 4. Beurteilung des Lernerfolgs, Rück- und Ausblick (Selbstevaluation, Bewertung der Lernleistungen).


6. Beurteilungsmaßstäbe und Bezugsnormen

Wer beurteilt, bringt Bezugsgrößen ins Spiel:

  • a) Wissen und Kompetenzen, die man früher zur Verfügung hatte,
  • b) das umfassende Verständnis eines Sachverhalts, die mustergültige, ideale Ausführung einer Fertigkeit oder
  • c) die Leistungen anderer.

Dabei stehen unterschiedliche Sachverhalte im Brennpunkt:


  • Individuelle Bezugsnorm:
    Vergleich mit eigenen früheren Leistungen. Die Bezugsgröße ist intraindividuell und bezieht sich auf den eigenen Lernzuwachs.

  • Sachliche Bezugsnorm:
    Beziehung zu Kompetenzen und Kompetenzniveaus. Die Norm ist kriteriums-, lernziel-, kompetenzorientiert, curricular, lehrplanbezogen und absolut. Der Lernstand wird mit einer definierten Kompetenz verglichen und eingestuft. Ein Beispiel sind die sechs Niveaus der Sprachbeherrschung (A1 bis C2) des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens (GER).

  • Soziale Bezugsnorm:
    Vergleich mit den Leistungen anderer. Bei dieser stark kompetitiven Weise des Beurteilens ist der Bezugsrahmen interindividuell, meist eine Klasse oder größere Lerngruppe. Für die Beurteilung ist die Rangposition entscheidend.

Personenvergleichende Beurteilung ist ein sehr delikates, ethisch fragwürdiges Geschäft mit kaum zu überschätzendem Demotivierungspotenzial.

Et od ut dollaut quia qui non ped quati re pel ea nisquam quiassinum quatus exerfernam volorporeped exceari nese del into mi, cum sam hitis parcidendae


7. Selbstbeurteilung nutzen und fördern

Selbstbeurteilung erscheint als Herzstück selbstbestimmten, autodidaktischen Lernens. Sie bezeichnet einen wichtigen Bereich metakognitiver Fähigkeiten. Selbstbeurteilungen laufen oft automatisch ab und Selbstbeurteilungsfertigkeiten werden meist nebenbei, unbewusst, ohne Aufmerksamkeitszuwendung, also implizit erworben. Selbstbeurteilung entspringt individualistischen Bildungskonzeptionen und wirkt wie viele andere Komposita mit «Selbst» – zum Beispiel Selbstverantwortung und Selbstreflexion – sehr modern. Sie ist auch Ausdruck gewachsener partnerschaftlicher Umgangsformen des gemeinsamen Aushandelns in der Erziehung und Schule und steht im Einklang mit den didaktischen Evergreens Lerntagebücher, Portfolios, Wochenplanunterricht und Freiarbeit. Trotz aller positiven Konnotationen ist Selbstbeurteilung tückenreich. Leicht schleichen sich Ambivalenzen, Widersprüche, Überforderung, Leerlauf, Ineffizienz, Gängelung und gar Repression ein. Beispielsweise kann eine Selbstbeurteilung bei unterdurchschnittlichen Schulleistungen Formen der Selbstdeklassierung, Selbstverurteilung und Selbsterniedrigung annehmen.

Selbstbeurteilung ist für die Verantwortungsübernahme, Selbstkontrolle, Unabhängigkeit von anderen und für die Autonomieentwicklung wichtig.

Die Fähigkeiten zur Selbstbeurteilung sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Selbst Studierende bekunden Mühe, valide einzuschätzen, ob sie beispielsweise etwas richtig verstanden haben oder ob sie über bestimmte Lernvoraussetzungen verfügen. Obwohl die Selbstbeurteilung gezielt gefördert werden muss, fehlt ein entsprechendes Curriculum. Bislang verfügen wir nur über eine relativ schmale empirische Basis zu erfolgreichen Selbstbeurteilungstechniken in der Schule.


8. Kriterienorientierung als zentrales Prinzip

Essenziell für Selbstbeurteilungen sind Kriterien: «Bei der kriterienorientierten Selbstbeurteilung verschaffen sich die Lernenden Informationen zu ihren Leistungen oder Fortschritten. Sie setzen diese Informationen in Bezug zu klar definierten Kriterien, Zielen oder Standards und orientieren ihr weiteres Lernen an den so gewonnenen Einsichten» (Andrade & Valtcheva, 2009, S. 12). Checklisten mit Kriterien für unterschiedliche Niveaus (sog. Scoring Rubrics) können dabei gute Dienste leisten. Allerdings verdienen nicht alle checklistenartigen Raster zur Lernkontrolle diesen Namen. Detaillierte Kriterien und gut identifizierbare Performanzniveaus müssen klar beschrieben sein. Fehlen die Niveaus, spricht man von bloßen Bewertungslisten («Rating Scales»). Motivation und zielgerichtetes Lernen zu unterstützen sowie Selbstbeurteilungen und Feedbacks durch Lehrpersonen oder Mitschüler zu erleichtern, dies vermögen aber nur eigentliche Checklisten mit eindeutigen Kriterien und elaborierten Niveaubeschreibungen.

Von Vorteil ist sicher, wenn die Beurteilungskriterien mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam entwickelt und individuell angepasst werden. Kontraproduktiv wirken sich oberflächliche, übergeneralisierende, unklare oder gar irreführende Skalen aus.

Unabhängig von der Verwendung von Kriterien ist die Praxis der Selbstbeurteilung anspruchsvoll. Anzustrebende Kompetenzen müssen zuerst explizit gemacht werden, wenn möglich sollen gemeinsam klare Erwartungen definiert werden. Die nächsten praktischen Schritte sind gut zu planen. Schon Selbstkorrekturen können für Schülerinnen und Schüler große Herausforderungen darstellen. Vor allem weniger fortgeschrittene Lernende müssen sorgfältig in die Selbstbeurteilung eingeführt werden und ihnen ist besonders zu helfen, die Selbstbeurteilung für das Lernen erfolgreich zu nutzen. Diese sollte deshalb nicht nur am Ende einer Lernsequenz ihren Ort haben, sondern auch im Verlaufe eines Lernprozesses und zu Beginn einer neuen Lernsequenz. Nicht empfehlenswert ist, Selbstbeurteilungen für die Benotung zu verwenden. Das Zertifizieren im Zeugnis ist ganz Sache der Lehrperson.


9. Portfolios für mehr Lernlust

In den letzten Jahren sind Portfolios populär geworden. Sie bieten mannigfaltige Möglichkeiten, Selbsteinschätzungen einzuüben sowie Wege, Erfahrungen, Erfolge, Schwierigkeiten und Strategien systematisch zu reflektieren. Kurz gesagt, sind Portfolios «eine Art systematischer Weg, Beispiele der persönlichen Leistungen, Lernprozesse und des eigenen Lernstils zu sammeln und zu dokumentieren» (Paris & Ayres 1994, S. 167). Grundsätzlich können Portfolios sowohl für die Beurteilung des Lernerfolgs (Assessment of Learning) wie auch für die Verbesserung des Lernens (Assessment for Learning) eingesetzt werden, mit Vorteil aber nicht für beide gleichzeitig. Stärkeren Einschränkungen unterliegen Präsentationsportfolios (Vorzeigeportfolios). Sie bieten zwar ein Übungsfeld für differenzierte summative Beurteilungen, vermögen aber als Ersatz für objektivere, einfacher auszuwertende Verfahren (Tests und Lernkontrollen) nicht zu überzeugen. Wenn nicht die besten Arbeiten im Zentrum stehen, sondern die Entwicklung und das Lernen im Verlaufe der Zeit (Entwicklungs-, Prozess-, Arbeitsportfolio), dann eröffnet sich für die formative Beurteilung ein weites Feld und der didaktischen Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Bei systematischer Verwendung im Unterricht und in einem Klima des Ver- und Zutrauens können Portfolios zu Kommunikations- und Förderinstrumenten werden. Doch dürften in der Praxis längst nicht alle Hoffnungen, die mit ihnen verbunden werden, eingelöst werden (Allemann-Ghionda, 2002; Lissmann, 2010). An aussagekräftigen Wirkungsstudien zur Nützlichkeit für die Lernfortschrittseinschätzung, den Umgang mit Lernschwierigkeiten und die Lernstrategieförderung besteht Mangel. Etabliert hat sich das europäische Sprachenportfolio (ESP; Giudici & Bühlmann, 2014).


10. Können beurteilen und zertifizieren (Performanzassessment)

«Automobil-Lenkungskompetenzen» können nicht über die Erfassung von theoretischem Wissen über das Autofahren in der Stadt überprüft werden, sondern nur mit einer Fahrt durch die Stadt. Produkte herstellen, Aufführungen, Ausstellungen, die Wasserqualität bestimmen …: alltags- und praxisnahe, anwendungsorientierte Aufgaben sind gefragt, wenn relevantes Können im Zentrum steht.

Fähigkeiten, Fertigkeiten bzw. Kompetenzen sind, wo immer dies möglich ist, in der Form zu evaluieren, wie sie außerhalb der Schule gefragt sind. «Authentisches» Beurteilen setzt auch die Kontexte der Bewährungssituationen voraus.

Mögliches Beispiel für den HSU: Die Schüler/innen hatten den Auftrag, drei Beispiele für das Zusammenleben verschiedener Sprachen und Kulturen in ihrem Umfeld auf einem Plakat zu dokumentieren (4.–6. Klasse) resp. drei Beispiele von diesbezüglichen Konfliktsituationen und möglichen Lösungen szenisch darzustellen (6.–9. Klasse). Anschließend werden die Ergebnisse dieses Auftrags unter bestimmten, vorher klar deklarierten Kriterien diskutiert und bewertet.


11. Unerwünschte Nebenwirkungen minimieren

Die Bildungsziele und Kompetenzanforderungen der Lehrpläne sind nicht den Lernkontrollen und Tests anzupassen, sondern die Überprüfungsverfahren den Curricula. Fähigkeiten und Fertigkeiten, so wie sie im Leben benötigt werden, Verständnis, Transfer und das, was im Unterricht zentral ist, müssen die Kompetenzüberprüfungen abbilden. Diese können sich dann positiv auf den Unterricht und das Lernen auswirken, wenn sie sich auf den Kern des Gelehrten und Gelernten beziehen. Grundsätzlich muss jedes Beurteilungsverfahren (Assessment) mit den Zielen des Unterrichts (Curriculum) und den Lerntätigkeiten (Instruktion) übereinstimmen und harmonieren («Alignment»).

Oft geht beim Beurteilen die Einsicht verloren, dass die Leistungen der Schülerinnen und Schüler in hohem Maße von den kulturell-ökonomischen Verhältnissen, dem sozialen Milieu, der Schule, der Lehrperson, den Eltern, den Mitschülerinnen und Mitschülern und anderen Akteuren abhängen. Die Leistungen eines Individuums lassen sich nicht von den Determinanten seines Umfeldes isolieren. Dies betrifft in besonderem Maße einen Teil der HSU-Schüler/innen, die aufgrund ihres Migrationshintergrundes, des Bildungshintergrundes ihrer Eltern und ihrer «Fremdsprachigkeit» oft nur eingeschränkte Chancen haben. Eine weitere Sensibilität muss erhalten bleiben. Vielerorts droht die Beurteilung des Lernerfolgs (das «Assessment of Learning») die förderorientierte Beurteilung des Lernens («Assessment for Learning») zu ersticken. Haben alle Schülerinnen und Schüler überhaupt noch ausreichend Zeit für produktives Lernen? Dürfen sie etwas zeigen, wenn sie es wirklich können, oder werden sie ständig mit Testaufgaben blamiert, bei denen ihnen klar ist, dass sie diese noch gar nicht lösen können? Wünschenswert sind Lernkontrollen, die das Interesse der Lernenden stimulieren und neues Lernen beflügeln.

Zu zertifizieren und benoten ist grundsätzlich das, was einzelne Kinder oder Jugendliche wirklich können, bzw. die Kompetenzen, über die sie über längere Zeit gut verfügen. Wertvolle Ergänzungen solcher «Statusdiagnosen» sind Angaben über bevorstehende Entwicklungsschritte und nächste Lernziele.

Im Zentrum steht die langfristige Kompetenzentwicklung. Beim HSU geht es dabei sicher in erster Linie um Kompetenzen in den Bereichen a) Beherrschung der Erstsprache, b) Erwerb von Kenntnissen zur Herkunftskultur und c) Erwerb von Kompetenzen hinsichtlich der Orientierung in der mehrsprachig-plurikulturellen Situation des Einwanderungslandes (vgl. hierzu auch Kap. 1 und 2).

Ein verwirrender Dschungel beliebiger Minikompetenzen sollte vermieden werden. Die Fokussierung auf die Lernfortschritte wie auch Lernbeurteilungen mit alltagsnahen Aufgabenstellungen, die hilfreiche Feedbacks für weiterführendes Lernen ermöglichen, gehören zu einer Bewertungskultur, die zu einer aktuellen Lernkultur passt und Bildungsanstrengungen unterstützt. Dazu gehören schließlich auch die Beteiligung der Lernenden beim Entwickeln von Lernkon- trollen, die kritische Bewertung und Berücksichtigung der Lernbedingungen bei den Leistungseinschätzungen genauso wie das Vermeiden jeglicher Stereotypen von Lernenden. Ein kluges Dilemmamanagement ist gefragt, damit die Überprüfungsverfahren keine Verengung des Curriculums auf leicht Prüfbares zeitigen, das Selbstwertgefühl einzelner Schülerinnen und Schüler nicht negativ prägen und dazu führen, dass die individuellen Qualitäten zu wenig wahrgenommen, anerkannt und geschätzt werden.


Literaturhinweise

Allal, Linda (2010): Assessment and the Regulation of Learning. In: Penelope Peterson; Eva Baker; Barry McGraw (Eds.): International Encyclopedia of Education. Vol. 3. Oxford: Elsevier, S. 348–352.

Allemann-Ghionda, Christina (2002): Von der Rute zum Portfolio – ein internationaler Vergleich. In: Heinz Rhyn (Hrsg.): Beurteilung macht Schule. Leistungsbeurteilung von Kindern, Lehrpersonen und Schule. Bern: Haupt, S. 121–141.

Andrade, Heidi ; Anna Valtcheva (2009): Promoting Learning and Achievement through Self-assess- ment. Theory Into Practice, 48,12–19.

Bildungsdirektion des Kantons Zürich (2013): Beurteilung und Schullaufbahnentscheide. Über das Fördern, Notengeben und Zuteilen. Zürich: Lehrmittelverlag des Kantons Zürich (downloadbare Broschüre).

Giudici, Anja; Regina Bühlmann (2014): Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK). Eine Auswahl guter Praxis in der Schweiz. Bern: EDK, Reihe «Studien und Berichte». Link: http:// edudoc.ch/record/112080/files/StuB36A.pdf

Lissmann, Urban (2010): Leistungsbeurteilung ges- tern, heute, morgen. In: Günter L. Huber (Hrsg.): EnzyklopädieErziehungswissenschaft Online. Weinheim: Juventa, S. 2–41.

Nüesch Birri, Helene; Monika Bodenmann; Thomas Birri (2008): Fördern und fordern. Schülerinnen- und Schülerbeurteilung in der Volksschule. St. Gallen: Kantonaler Lehrmittelverlag. Link: edudoc.ch/record/32505/files/foerdernfordern.pdf

Paris, Scott G.; Linda R. Ayres (1994): Becoming Reflective Students and Teachers With Portfolios and Authentic Assessment. Washington, DC: American Psychological Association.

Schmid, Christoph (2011): Beurteilen. In: Hans Ber- ner; Barbara Zumsteg (Hrsg.): Didaktisch handeln und denken 2. Zürich: Verlag Pestalozzianum, S. 235–266.

Schmid, Christoph (2014): Abschied von der Schwach- begabtenpädagogik. Handlungsmöglichkeiten im Bereich Bewältigung von Aufgaben und Anforde- rungen. In: Reto Luder; André Kunz; Cornelia Müller Bösch (Hrsg.): Inklusive Pädagogik und Di- daktik. Zürich: Publikationsstelle der Pädagogi- schen Hochschule Zürich, S. 303–331.


Inhaltsverzeichnis