Selin Öndül, Rita Tuggener


1. Einleitung

Vor welchen Herausforderungen stehen HSU-Lehrer/innen? Die detaillierte Antwort auf diese Frage wird – wie es auch die Statements in Teil 2 B zeigen – von einem Einwanderungsland zum anderen unterschiedlich ausfallen, z. B. in Abhängigkeit von der Integration des HSU ins reguläre Schulsystem. Fraglos gibt es aber auch übergreifende, gemeinsame Punkte. Die folgenden Unterkapitel gehen auf neun solcher Punkte ein; einige derselben sind bereits aus Kapitel 1 A bekannt, weitere werden in anderen Kapiteln vertieft. Das Ziel dabei ist, die betreffenden Herausforderungen sichtbar zu machen, die Lehrpersonen bei deren Bewältigung zu unterstützen und sie auch hinsichtlich möglicher Überforderungen zu sensibilisieren.


2. Rahmenbedingungen, schulische Strukturen

HSU hat in den meisten Ländern, Bundesländern, Kantonen und Gemeinden den Status eines freiwilligen Wahlangebots im Umfang von zwei bis (selten) vier Wochenstunden. Angeboten und organisiert wird er, wie in Kap. 1 A.3 ausführlich dargestellt, entweder von Bildungsinstitutionen des Einwanderungslandes, vom Konsulat oder von der Botschaft des Herkunftslandes oder von nichtstaatlichen Trägerschaften (Vereine, Stiftungen etc.). Je nach Trägerschaft unterscheiden sich in der Regel auch die Anstellungsbedingungen und die Löhne der HSU-Lehrer/innen beträchtlich. Eine Studie in der Schweiz (Calderon, Fibbi, Truong, 2013) zeigt auf, dass sich die Bandbreite des Lohns pro Lektion zwischen 0 und über 100 Schweizer Franken bewegt. Je nach Art der Trägerschaft (und Anzahl Schüler/innen) üben denn auch manche HSU-Lehrpersonen ihre Arbeit als Hauptberuf, Nebenberuf oder gar als freiwillige Arbeit aus.

Von den Rahmeninstrumenten, Ansprüchen und Erwartungshaltungen her muss sich der HSU zwischen den gesetzlichen Vorgaben des Einwanderungslandes, dem HSU-Lehrplan des Herkunftslandes und den verschiedenen Erwartungen (z. B. der Behörden und Kolleg/innen des Einwanderungslandes oder der Eltern der Schüler/innen) orientieren (siehe auch Kap. 1 A.2, Ziele des HSU, und das Statement in Kap. 2 B.2). Dies kann zu Loyalitätskonflikten und Problemen führen; etwa, wenn stark national gesinnte Eltern «mehr Patriotismus» fordern, der Rahmenlehrplan des Einwanderungslandes aber dezidiert Gewicht auf Erziehung zu Toleranz und gegenseitige Verständigung legt. Wichtig ist, dass die HSU-Lehrperson einen klaren, mit den Rahmeninstrumenten kompatiblen Standpunkt einnimmt und diesen auch gegenüber Eltern und Kolleg/innen vertritt.

Der HSU findet in der Regel außerhalb der regulären Schulzeit statt, kaum vernetzt mit dem regulären Unterricht, verteilt auf verschiedene Schulhäuser oder Gemeinden und teilweise in ungeeigneten oder ungenügend ausgerüsteten Räumen. Zumindest an den ersten drei dieser Rahmenbedingungen kann man als einzelne HSU-Lehrperson nicht viel ändern. Neben dem direkten Gespräch mit den in den Gemeinden und Schulhäusern Verantwortlichen lohnt es sich aber, sich in einem Berufsverband oder in einer Gewerkschaft zu organisieren und zu versuchen, von dieser höheren Ebene her bessere Rahmenbedingungen zu erreichen.

Die genannten ungünstigen Rahmenbedingungen können zu Motivationsproblemen sowohl für die Schüler/innen wie auch für die Lehrkräfte führen. Neben den oben genannten Gesprächen und Verhandlungen auf verschiedenen Niveaus bewährt sich als gute Maßnahme gegen Motivationsprobleme, einen spannenden und interessanten Unterricht zu erteilen, der für die Schüler/innen wie auch für die Lehrpersonen Anreize bietet.

Wenn es zudem gelingt, zumindest punktuelle Kooperationen mit einzelnen Schulhäusern oder Lehrpersonen des regulären Unterrichts einzugehen, unterstützt dies nicht nur die Motivation, sondern auch die sprachliche und psychosoziale Entwicklung der Schüler/innen.

Vielfältige Anregungen hierzu bietet Kapitel 12, so etwa das Muster eines «Steckbriefs», mit dem sich HSU-Lehrer/innen im Schulhaus vorstellen können. Siehe auch die ganz konkreten «Tipps für HSU-Neulinge» von Valeria Bovina in Kap. 1 B.5.


3. Vorbereitung und Unterstützung hinsichtlich der Aufgaben als HSU-Lehrer/in

HSU-Lehrer/innen stellen schnell fest, dass sich der HSU vom regulären Schulunterricht, auf den sich ihre Ausbildung bezog, beträchtlich unterscheidet. Zu den Unterschieden zählen u. a. der Mehrklassenunterricht, eine sprachlich extrem heterogene Schülerschaft, die Beschränkung auf bloß wenige Wochenstunden, Schüler/innen, die an offene und individualisierende Unterrichtsmethoden gewöhnt sind, teilweise fehlende oder nicht adäquate Lehrmittel, eine oft schwache Integration ins reguläre Schulsystem etc. (vgl. Kap. 1 A.6 und 2 B.1).

Auf diese Unterschiede und spezifischen Gegebenheiten sind die neuen HSU-Lehrer/innen in der Regel nicht vorbereitet. Entsprechend benötigen sie Orientierungshilfen und Unterstützung in Form von Weiterbildungen und weiteren Informationen.

Ein gutes Beispiel hierfür stellt das obligatorische Modul «Einführung ins Zürcher Schulsystem» dar, welches in Kap. 14 A.3 beschrieben wird. Nach und neben dieser ersten Einführung in den lokalen Kontext ist es allerdings wichtig, auch mit den Kernpunkten der im Einwanderungsland geltenden Pädagogik, Didaktik und Methodik, mit HSU-spezifischen Fragen der Unterrichtsplanung und mit Möglichkeiten der Kooperation mit dem regulären Unterricht vertraut zu werden. Hierfür sind verschiedene Weiterbildungsangebote seitens des Einwanderungs- wie auch des Herkunftslandes nötig (vgl. dazu Kap. 14). Zu hoffen ist ferner, dass nicht zuletzt das vorliegende Handbuch (u. a. mit Hilfe der Denk- und Diskussionsimpulse im C-Teil eines jeden Kapitels) hier wertvolle Dienste leisten kann und wird. In jedem Falle unerlässlich sind gute und intensive Kontakte mit Kolleg/innen des eigenen HSU, mit weiteren HSU-Lehrer/innen, mit den Lehrer/innen des regulären Unterrichts und mit den Behörden und Zuständigen der Schule im Einwanderungsland.


4. Kulturelle Mediation und Vermittlung als neue Facette des Berufsauftrags

Als Klassenlehrer/in hat man einen klaren Berufsauftrag, sei es im Herkunfts- oder im Einwanderungsland. Die Kompetenzen, die man hierfür braucht, werden zu einem guten Teil durch die Lehrer/innenausbildung vermittelt. Wenn man als HSU-Lehrer/in ins Ausland geht, fallen einem neue Aufgaben zu, für die man nicht ausgebildet ist. Hierzu zählen nicht zuletzt die vielfältigen Vermittlungs- und Mediationsfunktionen zwischen den Eltern und den Lehrer/innen (oder weiteren Instanzen) des Einwanderungslandes. HSU-Lehrer/innen mit guten Kenntnissen der Landessprache werden dies bestätigen: Sehr schnell wird man als Übersetzer/in für Elterngespräche angefragt. Dies kann besonders dann sinnvoll sein, wenn es um Schüler/innen geht, die sowohl den Lehrer/innen des regulären Unterrichts wie jenen des HSU bekannt sind. Dass es in solchen Gesprächen um mehr als die bloße Übersetzung geht, liegt nahe. Nichts als korrekt ist übrigens, wenn die zur Hilfe gerufene HSU-Lehrperson für ihre Zeit und Arbeit auch entschädigt wird.

Auch wenn HSU-Lehrer/innen in Situationen übersetzen, wo sie die involvierten Schüler/innen nicht kennen, erfüllen sie meist eine zusätzliche Funktion als kulturelle Mediator/innen bzw. als interkulturelle Dolmetscher/innen. Indem sie einerseits das lokale Schulsystem und seine Erwartungen kennen, andererseits mit dem kulturellen Hintergrund der Familie und mit den kulturspezifischen Vorstellungen von Schule und Erziehung vertraut sind, können sie wertvolle Brücken schlagen, Informationslücken füllen und sowohl der Klassenlehrperson wie auch den Eltern Unterstützung bieten.

Besonders wichtig ist die Vermittlung und Thematisierung all der im Einwanderungsland geltenden ungeschriebenen Normen und Erwartungen, die vor allem eingewanderten Eltern aus bildungsferneren Familien oft gar nicht bewusst sind.

Dazu zählen zum Beispiel ungeschriebene, aber als selbstverständlich geltende Regeln in Bezug auf die «richtige» Zeit, wann kleinere und größere Kinder zu Bett gehen sollen, was Kinder frühstücken oder sonst essen sollen, wie man mit Hausaufgaben und Lernumgebung zu Hause umgeht etc. Sich hier zu informieren und die Informationen weiterzugeben ist eine wichtige Aufgabe für HSU-Lehrer/innen.

Wenn die HSU-Lehrperson genügend über das lokale Schulsystem und über die erwähnten «ungeschriebenen Regeln» Bescheid weiß, kann sie (möglichst in Kooperation mit der lokalen Schule) Elternabende organisieren und die Eltern über die Werte, Haltungen und Erwartungen der Schule im Einwanderungsland informieren. Wichtig scheint aber zum Schluss auch der Hinweis, dass zwei Sprachen zu beherrschen einen nicht automatisch befähigt, als Dolmetscher/in zu arbeiten. Auf jeden Fall gilt es, darauf zu achten, sich mit der anspruchsvollen Aufgabe des interkulturellen Dolmetschens nicht zu überfordern und die entsprechenden Anlässe sorgfältig zu dosieren.


5. Potenziale und Chancen des HSU

Zu den angenehmen Herausforderungen der Arbeit als HSU-Lehrer/in zählt, dass man sich auch der Potenziale, der Bedeutung und der Chancen dieses Unterrichts bewusst wird. Wir beschränken uns auf vier Facetten.

a) Bedeutung des HSU für die Entwicklung von Biliteralität

Der HSU leistet einen entscheidenden Beitrag bei der Entwicklung biliteraler Kompetenzen (lesen und schreiben können auch in der eigenen Erstsprache). Um die Herkunftssprache auch in ihrer standardsprachlichen und geschriebenen Variante zu lernen und zu einer ganzheitlichen, auch die Schriftkultur umfassenden Zweisprachigkeit zu gelangen, ist der HSU mehr oder weniger die einzige Chance. Dies gilt vor allem für Schüler/innen aus bildungsferneren Familien, in denen primär Dialekt gesprochen und kaum gelesen und geschrieben wird.

Durch die Schulung der literalen Fähigkeiten im HSU werden die betreffenden Kinder und Jugendlichen auch in ihrer Erstsprache zu kompetenten Sprachverwender/innen. Sie behalten und entwickeln damit eine wichtige Sonderkompetenz und einen integralen Teil ihrer bikulturellen Identität. Der HSU wirkt der Gefahr entgegen, dass sie den Anschluss an ihre Schriftkultur verlieren und zu Analphabet/innen in ihrer Erstsprache werden. Hinzu kommt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in ihrer Erstsprache zwar über einen Wortschatz verfügen, mit dem sie alltagssprachliche, familiäre Situationen problemlos meistern können. Geht es aber um die Auseinandersetzung mit komplexeren Themen und anspruchsvolleren Texten, so stoßen sie oft an Grenzen.

Der HSU erfüllt unter anderem die wichtige Funktion, den erstsprachlichen Wortschatz zu erweitern und ihn auch für schulbezogene und anspruchsvollere Themen funktional zu machen.

Damit kann auch das problematische Auseinanderfallen des Wortschatzes vermieden werden, das sonst oft zu beobachten ist: Familiäres und alltagsbezogenes Vokabular ist vor allem in der Erstsprache vorhanden, schulisches und «akademischeres» Vokabular vor allem in der Schul- resp. Landessprache.

Beide Funktionen – Aufbau der literalen Kompetenzen und eines umfassenderen Wortschatzes in der Erstsprache – sollen mit den Schüler/innen und ihren Eltern auch diskutiert und in ihrer Bedeutung bewusst gemacht werden.

b) Beitrag zu einer mehrsprachigen Gesellschaft

Der HSU kann einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung von zwei sprachbezogenen Postulaten der Europäischen Union leisten. Deren erstes betrifft die Forderung nach dem frühen Erwerb von mindestens zwei Fremdsprachen. Das zweite verlangt die Förderung der individuellen Mehrsprachigkeit, bis alle Bürger/innen zusätzlich zu ihrer Erstsprache über praktische Kenntnisse in mindestens zwei weiteren Sprachen verfügen (vgl. Europäische Union, 2005; siehe Literaturhinweise). Eine unerlässliche Voraussetzung zur Einlösung dieser Forderungen ist allerdings, dass das reguläre Schulsystem adäquate Rahmenbedingungen für den HSU bietet und die Eltern über das Angebot und seinen Nutzen ernsthaft und nachhaltig informiert.

c) Potenziale für den Bereich Language Awareness/Sprachenbewusstsein

Mehrsprachig aufzuwachsen ist besonders ergiebig, wenn alle Sprachen auch schulisch gefördert werden – d. h. hinsichtlich des Lesens, Schreibens, der Beherrschung der Standardvariante, des Aufbaus eines breiten Wortschatzes und des sprachlichen Bewusstseins.

Der HSU kann hierzu einen Beitrag leisten, der umso wichtiger ist, als ihn die reguläre Schule nicht leisten könnte. Insbesondere kann er – sofern entsprechende Lernanlässe geschaffen werden – viel zur Entwicklung des wichtigen Bereichs Language Awareness/Sprachenbewusstsein beitragen.

Indem die Schüler/innen des HSU von Anfang an über mindestens zwei Sprachen verfügen (Erstsprache; Sprache des Einwanderungslandes; evtl. schulische Fremdsprachen), können und sollen im HSU vielfältige Gelegenheiten für Sprachenvergleiche und Sprachenbetrachtung genutzt werden. Diese spannenden und attraktiven Lernanlässe helfen den Schüler/innen auch, ihre Sprachen besser zu verbinden.

Dazu kommen die positiven Effekte der Arbeit im Bereich Language Awareness/Sprachenbewusstsein, die schon länger bekannt und anerkannt sind und mit dazu führen, dass Schüler/innen in ganz Europa seit einigen Jahren ein Sprachenportfolio führen. Aus dem breiten Katalog dieser Effekte bei James & Garett (1992) wählen wir nur einige wenige aus, die selbstverständlich auch für Sprachvergleiche und -betrachtungen im HSU gelten:

  • Neugierde und Interesse an Sprachen wecken
  • Sprachkompetenzen und Sprachlernfähigkeiten verbessern
  • Interesse und Akzeptanz gegenüber sprachlicher Vielfalt fördern
  • Bewusstsein und Stolz gegenüber der eigenen Mehrsprachigkeit entwickeln
  • den Wunsch und die Motivation, Sprachen zu erlernen, wecken und verstärken
  • eine Haltung der Wertschätzung für andere Sprachen und Kulturen aufbauen
  • Fertigkeiten der Beobachtung und Analyse von Sprache(n) und Kommunikation fördern
  • metasprachliche Fähigkeiten aufbauen

d) Nutzen für die HSU-Lehrperson

Die Arbeit als HSU-Lehrperson ist nicht nur herausfordernd, sondern auch bereichernd. Die vielfältigen Erfahrungen mit den Aufgaben in der pädagogischen Arbeit und im Umgang mit der Kultur des Einwanderungslands bieten eine einzigartige Chance, die eigenen transkulturellen Kompetenzen weiterzuentwickeln und diese gegebenenfalls innerhalb einer neuen oder zusätzlichen Aufgabe als Lehrer/in in die Arbeit einfließen zu lassen.


6. Eine besondere Herausforderung: Die eigene Integration im Einwanderungsland

Lehrer/innen, die vertraglich auf eine bestimmte Zeit ihre Arbeit im Einwanderungsland ausüben, müssen sich für diese Zeit integrieren und gleichzeitig ihre Rückkehrfähigkeit aufrechterhalten. Das ist anspruchsvoll und kann bedeuten, dass Familiennachzug nicht möglich ist, Ehepartner voneinander oder Kinder von ihren Eltern getrennt werden. HSU-Lehrer/innen sind nicht in ein Team eingebunden, das sich täglich sieht und austauscht, sondern in der Regel zu Randzeiten im Einsatz und häufig von einer Schule zur anderen unterwegs. Sie tragen ein hohes Maß an Eigenverantwortung. Sie sind mit vielen verschiedenen Verantwortlichen und Zuständigen in Kontakt, müssen sich in den jeweils geltenden Strukturen, Reglementen und Normen zurechtfinden und dabei ihren Auftrag wahrnehmen. Zudem müssen sie, nach erfolgreicher Wohnungssuche, an ihrem Wohnort und in ihrem privaten sozialen Umfeld ein Beziehungsnetz knüpfen und soziale Kontakte pflegen. Gute Kenntnisse der Landessprache, Risikobereitschaft, Neugier, Durchhaltevermögen sowie Kontaktfreude sind optimale Voraussetzungen, um Begegnungen im schulischen wie auch im gesellschaftlichen Zusammenhang erfolgreich zu gestalten. Schenkt man den genannten Faktoren zu wenig Beachtung und dominieren wirtschaftliche Anreize oder Gründe die Übernahme der HSU-Lehrtätigkeit, können Isolation, psychische Belastungen und Krankheit die Folge sein.

Es empfiehlt sich, vor der Übernahme der Tätigkeit so viel als möglich über das Einwanderungsland und die Arbeitsbedingungen als HSU-Lehrer/in in Erfahrung zu bringen und sich entsprechend vorzubereiten. Wichtig sind vor allem gute Kenntnisse der Sprache des Einwanderungslandes (mancherorts wird das Niveau B1 gemäß dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen verlangt) und eine gesicherte Wohnsituation.


7. Heterogenität als Chance und Herausforderung

Ein Kennzeichen heutiger HSU-Klassen ist die große Heterogenität u. a. in sprachlicher, migrationsbiografischer und altersmäßiger Hinsicht. Verantwortlich sind migrationsgeschichtliche, demografische und weitere Umstände. Auf die Heterogenität der HSU-Klassen ging bereits Kap. 1 A.5 ein; wir akzentuieren und vertiefen hier drei der dortigen Punkte.

a) Sprachliche Heterogenität

HSU war in seiner ursprünglichen Form ein rückkehr- orientierter Unterricht, der die Reintegration der Schüler/innen in die Schule des Herkunftslands erleichtern sollte. Damals nahmen an diesem Unterricht primär Kinder von Arbeitsmigrant/innen teil, deren Aufenthalt im Einwanderungsland als vorübergehend angesehen wurde. Die familiären Hintergründe wie auch die Sprachkenntnisse waren eher homogen. Dies ist heute definitiv nicht mehr der Fall. So besuchen beispielsweise den italienischen oder kroatischen HSU sowohl Kinder der dritten Migrationsgeneration wie auch solche, welche erst vor einigen Monaten mit ihren Eltern zugezogen sind. Daneben gibt es immer mehr Kinder aus Mischehen, in denen nur ein Elternteil die im HSU vermittelte Sprache spricht und deren Erstsprachkompetenzen entsprechend niedriger sind.

Der Ausdruck «Erstsprache» selbst ist für manche dieser Kinder und Jugendlichen nicht mehr eindeutig – sei es, dass sie von Geburt an mit zwei Sprachen aufgewachsen sind oder dass ihre Kompetenzen in der Schul- und Landessprache inzwischen deutlich höher sind als jene in der Herkunftssprache.

Dass die Schüler/innen im HSU während der Pausen oder im informellen Gespräch miteinander nicht in der Erstsprache, sondern in der Schul- und Landessprache kommunizieren, ist genau aus diesem Grund keineswegs eine Ausnahme.

b) Altersmäßige Heterogenität

HSU-Klassen sind fast immer altersdurchmischt; im Extremfall umfassen sie Schüler/innen vom Kindergarten bis zur neunten Klasse. Dies ist umso anspruchsvoller, als im HSU aus den oben genannten Gründen das Alter und die Sprachkompetenz keineswegs zwingend zusammenhängen (eine lernfreudige Drittklässlerin ist unter Umständen viel stärker in der Erstsprache als eine Achtklässlerin, die die Erstsprache höchstens noch zu Hause mit der Mutter spricht). Altersdurchmischung kann ein Vorteil sein, weil die Kinder in altersdurchmischten Gruppen viel voneinander lernen. Sie kann aber auch zum Problem werden, wenn die Unterschiede in der kognitiven und sozialen Entwicklung so groß sind, dass sich kaum mehr gemeinsame Themen und Interessen finden lassen. Hier ist die didaktische Kreativität der HSU-Lehrer/innen gefragt. Gegenseitiger Austausch und gegenseitige Entlastung bei den Vorbereitungen können eine wichtige Hilfe darstellen; weitere Unterstützung bieten die Kapitel 9–12 im vorliegenden Handbuch.

c) Familiäre Hintergründe

Eine weitere Dimension der Heterogenität betrifft die Bildungshintergründe und Lebensbedingungen der Familien. Auch wenn sie aus dem gleichen Land kommen, unterscheiden sich Bildungsnähe, Lebensumstände im Einwanderungsland etc. der verschiedenen Familien oft beträchtlich. Dies hängt damit zusammen, dass wirtschaftliche und politische Verhältnisse Familien aus ganz verschiedenen Schichten und Verhältnissen zur Emigration bewegen. Die unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründe der einzelnen Schüler/innen können – zusammen mit den sprachlichen und altersbezogenen Unterschieden – zu einer starken Herausforderung für die HSU-Lehrer/innen werden; sie können aber auch zum Anlass spannender und lehrreicher Betrachtungen und Diskussionen werden.

Was alle HSU-Schüler/innen gemeinsam haben, sind ihre Zwei- oder Mehrsprachigkeit und ihre doppelten diesbezüglichen Ressourcen und Potenziale. Deshalb empfehlen wir Lehrpersonen, die mit diesen Schüler/innen arbeiten, sich gründlich über das Thema Zwei- oder Mehrsprachigkeit zu informieren.

Eine erste wichtige Einsicht ist dabei sicher, dass Zweisprachigkeit nicht das perfekte Beherrschen oder akzentfreies Sprechen zweier Sprachen bedeutet. Die Schüler/innen haben in der Regel unterschiedliche Kompetenzniveaus in ihren Sprachen; dies ist normal und stellt den Ansatzpunkt der Förderung dar. Von großer Bedeutung ist die Anerkennung der Sprachleistungen und -kompetenzen – insbesondere auch der Kompetenzen in der Erstsprache, die ja von der Gesellschaft und vom regulären Schulbetrieb oft zu wenig wahrgenommen und gewürdigt werden.

Sehr empfehlenswert ist das (leider nur auf Englisch erhältliche) Werk «The Psycholinguistics of Bilingualism» von Grosjean & Li (2013). Es bietet leicht verständliche Grundlagen und hilft HSU-Lehrpersonen in ihrer eigenen Weiterentwicklung und bei der Beratung von Eltern und weiteren Personen, die dem HSU- Unterricht oder dem Thema Bilingualität gegenüber skeptisch sind.


8. Unterrichtsmaterialien und Hausaufgaben

a) Unterrichtsmaterialien

Zu den Herausforderungen, mit denen sich viele HSU-Lehrer/innen konfrontiert sehen, zählt die unbefriedigende Situation, was Lehrmittel und weitere HSU-spezifische Unterrichtsmaterialien betrifft (vgl. Kap. 1 A.6 und 2 B.2). Ausführlich geht hierauf das Kapitel 10 A.4 («Mögliche Quellen von Unterrichtsmaterialien») ein, wo sich (wie auch in Kap. 10 A.5 und A.6) eine Reihe konkreter und praktikabler Hinweise zur Materialbeschaffung findet.

Lohnend ist auf jeden Fall, sich mit Kolleg/innen darüber auszutauschen, welche Unterrichtsmaterialien sie benutzen und welche (elektronischen und anderen) Quellen sie diesbezüglich nutzen. Viele Lehrpersonen haben eine Menge selbst hergestellter Materialien. Deren Austausch oder die Anlage eines (evtl. elektronischen) Archivs kann für viele Lehrpersonen eine sinnvolle und lohnende Unterstützung bieten.

b) Hausaufgaben

Grundsätzlich sind Hausaufgaben eine sinnvolle Ergänzung für den HSU; dies auch insofern, als die Anzahl der Lektionen pro Woche und Schuljahr sehr beschränkt ist. Allerdings variiert der Umgang mit Hausaufgaben von Land zu Land, so dass es wichtig ist, sich über die entsprechende Handhabung im lokalen Schulsystem zu orientieren. Auch die restlichen Verpflichtungen der Kinder unter der Woche und die zur Verfügung stehende Freizeit sind wichtige Aspekte, die man berücksichtigen soll.

Wenn Hausaufgaben für die Schüler/innen eine Überforderung darstellen, werden sie eher ein Grund sein, um nicht mehr in den HSU zu kommen. Wenn sie aber eine sinnvolle und machbare Ergänzung zum Unterricht sind, werden sie den Lernprozess unterstützen und finden in der Regel auch Unterstützung durch die Eltern.

Genauso wichtig wie die Quantität ist allerdings die Qualität der Hausaufgaben: Für eine spannende, einleuchtende und attraktive Hausaufgabe werden die Schüler/innen gerne auch etwas mehr Freizeit einsetzen; für eine langweilige Pflichtaufgabe sind schon 20 Minuten zu viel.


9. Beurteilung der Kompetenzen und Leistungen der Schüler/innen

Im Umgang mit der stark heterogenen Schülerschaft ist die teilweise Individualisierung der Ziele, Inhalte und Anforderungen eine wichtige Möglichkeit, qualitativ guten Unterricht anzubieten (vgl. auch Kapitel 3 zu den Charakteristika guten Unterrichts). Mit der Individualisierung verbinden sich allerdings auch Fragen und Herausforderungen hinsichtlich der Beurteilung der Leistungen. Kapitel 7 («Leistungen förderorientiert beurteilen») führt aktuelle Kernpunkte hierzu aus; in Teil 7 B finden sich Praxisbeispiele, die gute Anregungen geben können. Freilich bleibt es auch so beinahe eine Sache der Unmöglichkeit, angesichts der stark heterogenen Klassen und der knappen Zeit zuverlässige Noten zu erteilen, die den unterschiedlichen Kompetenzen der Schülerschaft gerecht werden.

Anspruchsvoll ist auch der Umgang mit den unterschiedlichen Erwartungen, die einerseits die Eltern, andererseits die Lehrer/innen des regulären Unterrichts an die HSU-Noten haben: Die lokalen Lehrpersonen möchten möglichst «realistische» Noten sehen, aus denen sich auch gewisse Rückschlüsse z. B. auf die Erstsprachkompetenz und das Arbeitsverhalten ziehen lassen. Die Eltern möchten möglichst gute Noten sehen. Schlechte Noten können rasch dazu führen, dass sie ihre Kinder vom HSU abmelden, was angesichts von dessen fakultativem Charakter ja auch möglich ist. Eine Lösung dieses Dilemmas ist anspruchsvoll; am ehesten dürften Gespräche mit beiden Seiten (Eltern und Regelklassenlehrer/innen) zum Erfolg führen. Ein Problem kann dabei die hohe zeitliche Belastung der HSU-Lehrer/innen sein. In diesem Falle ist es sicher ratsam, die Kommunikation auf einige wenige Schüler/innen zu reduzieren, bei denen es besondere Auffälligkeiten gibt oder für die aus anderen Gründen (z. B. erst vor Kurzem erfolgter Zuzug) eine gemeinsame Förderung sehr wichtig ist.

Die Beurteilung der HSU-Schüler/innen birgt ein großes Überforderungspotenzial, das nicht unterschätzt werden darf.

Wir empfehlen, dies ernst zu nehmen und das Thema auch mit den lokalen Verantwortlichen zu besprechen. Im Sinne der Förderorientierung empfiehlt es sich in jedem Falle, den Schüler/innen neben bloßen Noten auch differenziertes schriftliches oder mündliches Feedback zu geben und sie mittels nachvollziehbarer Kriterien in der Fähigkeit zur Selbstbeurteilung zu stärken.


10. Klassenführung und Disziplin: Zum Umgang mit dem Verhalten von Schüler/innen

Neben fachlichen Kompetenzen gehört zu den Aufgaben der Schule immer auch die Vermittlung von Werthaltungen und sozialen Kompetenzen (dies entspricht dem doppelten Auftrag der Volksschule als Bildungs- und Erziehungsinstitution). Allerdings herrschen diesbezüglich teilweise unterschiedliche, länderspezifische Vorstellungen und Prioritäten. So kann das Schulsystem im einen Land großen Wert auf Selbstständigkeit legen, während ein anderes Land eher Fleiß, Gehorsam und Pünktlichkeit als Kernkompetenzen einstuft und ein drittes Land die Demokratieerziehung ins Zentrum stellt (vergleiche auch die Kapitel 4 und 5, welche die Kernpunkte zusammenstellen, über die in den west- und nordeuropäischen Ländern weitgehend Konsens besteht).

Die genannten Unterschiede, die auch von Lehrperson zu Lehrperson bestehen können, haben einen Einfluss auf die Klassenführung und die Durchsetzung der Klassenregeln. Die Schüler/innen kennen die Klassenführung des Einwanderungslandes und akzeptieren diese als Norm oder normal. Allerdings kann sich diese Art der Klassenführung deutlich von jener der HSU-Lehrperson unterscheiden. Wichtig ist, die Unterschiede kennenzulernen und ein eigenes, mit den Schülern durchgesprochenes Regelwerk einzuführen.

Nicht selten berichten HSU-Lehrpersonen von vermeintlichen «Disziplinproblemen», nur weil ihre Klassenführung und Rituale von denen des Einwanderungslandes abweichen und die Schüler/innen und Lehrpersonen unterschiedliche Erwartungen aneinander haben.

Wir empfehlen den HSU-Lehrpersonen, durch Schulbesuche und Gespräche die lokalen Verhaltensmuster, Rollenverteilungen (Schüler/innen und Lehrperson) und Klassenrituale kennenzulernen. Danach können sie bewusst und authentisch ihre eigenen Klassenregeln aufstellen. Diese können sich auf Werte, Normen und auch Rituale sowohl des Einwanderungs- wie auch des Herkunftslands beziehen. Wenn die Regeln – wie auch die Konsequenzen bei Regelverstößen – gemeinsam mit den Schüler/innen besprochen und erarbeitet wurden, erhalten sie größere Akzeptanz und werden eher eingehalten.


Literaturhinweise

Calderon, Ruth; Rosita Fibbi; Jasmine Truong (2013): Arbeitssituation und Weiterbildungsbedürfnisse von Lehrpersonen für den Unterricht in heimat- licher Sprache und Kultur. Neuchâtel: rc consulta. Link: http://www.rc-consulta.ch/pdf/HSK-
Erhebung_d_def.pdf

Europäische Union (2005): Rahmenstrategie für Mehrsprachigkeit. Link: http://europa.eu/legislati- on_summaries/education_training_youth/lifelong_learning/c11084_de.htm
oder http://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ TXT/?uri=CELEX:52005DC0596

Grosjean, François; Ping Li (2013): The Psycholingu – istics of Bilingualism. Malden, MA, & Oxford: Wiley-Blackwell.

James, Carl; Peter Garett (1992): The Scope of Lan- guage Awareness. In: C. James and P. Garett (eds.): Language Awareness in the Classroom. London: Longman, S. 3–20.

Schader, Basil; Nexhat Maloku (2015): Förderung des Schreibens in der Erstsprache (= Reihe «Mate- rialien für den herkunftssprachlichen Unterricht»; Didaktische Anregungen 1). vpod Bildungspolitik (2014): Sonderheft Nr. 188/189 «Die Zukunft des Erstsprachunterrichts» (div. Beiträge).


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