Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die gegenwärtige Schreibdidaktik im deutschen Sprachraum, spiegeln aber natürlich auch internationale Entwicklungen wider. Charakteristisch für die Neukonzeption der letzten 30 Jahre ist bereits der Begriff «Didaktik des Texteschreibens», der den früheren Terminus «Aufsatzunterricht» abgelöst hat. Damit verbindet sich ein breiterer, weit über den klassischen Schulaufsatz hinausgehender Textbegriff. Zu den Kernpunkten der zeitgenössischen Didaktik des Texteschreibens (in denen sich diese vielleicht teilweise auch von dem unterscheidet, was manche Lehrpersonen des herkunftssprachlichen Unterrichts von ihrer Ausbildung her mitbringen) zählen die nachfolgenden fünf Punkte. Wir führen sie gleich mit Bezug zum herkunftssprachlichen Unterricht aus und ergänzen in Kap. 4 dieser Einleitung einige zusätzliche Punkte, die speziell für diesen Unterricht bedeutungsvoll sind.

a) Schreiben als soziale Tätigkeit erfahren lassen: Klären, für wen und wozu man schreibt!

Mit Ausnahme weniger Fälle (z. B. Tagebuch, Einkaufszettel) ist Schreiben ein wesensmäßig kommunikativer Vorgang, mit dem man sich an eine oder mehrere andere Personen richtet, um etwas mitzuteilen oder zu erreichen. Die Schüler/innen sollen daher von Anfang an das Schreiben bewusst als soziale Praxis und Tätigkeit erleben können. Mit anderen Worten: Wenn Schüler/innen zum Schreiben aufgefordert werden, sollen sie auch wissen, für wen und wozu sie schreiben bzw. was mit den Texten nach dem Schreiben geschieht. Nur einfach für die Lehrperson und deren Rotstift zu schreiben, reicht als Adressatenbezug definitiv nicht. Stattdessen muss sich die Lehrperson (evtl. zusammen mit den Schüler/innen) bei jedem Schreibanlass überlegen, was mit den Texten geschehen soll (vorlesen oder in der Klasse ausstellen, zu einem Buch binden, Verwendung in einer Form der Korrespondenz etc.). Ideen für Adressatenbezug finden sich in Nr. 12, sie lassen sich selbstverständlich auf verschiedenste Schreibsituationen und -anlässe anwenden.

b) Bezug zur Lebens- und Fantasiewelt der Schüler/innen, motivierende Schreibaufträge

Die Themen der Schreibanlässe sollen in engem Bezug zur Lebenswelt der Schüler/innen, aber auch zu ihren Wünschen, Träumen und Fantasien stehen. Um diesen Bezug herzustellen, braucht es erstens entsprechende, motivierende Aufgabenstellungen. Solche finden sich in den nachfolgenden Unterrichtsvorschlägen in großer Fülle, angefangen mit einfachen, niederschwelligen Schreibspielen bis hin zu größeren Projekten. Nötig ist zweitens eine (meist mündliche) vorgängige inhaltliche Vorbereitung und Einstimmung der Schüler/innen. Hierzu gehören auch klare, eindeutige Vorgaben, Erwartungen und Kriterien, an denen sich die Schüler/innen orientieren können. Schreibaufträge inhaltlich und mit Blick auf den Adressat/innenbezug genau zu planen, gehört fraglos zur Professionalität heutiger Lehrer/innen.

c) Erweiterter Begriff von Textsorten, Medien und Funktionen des Schreibens

Während in der Schule früher vor allem Erlebnisaufsätze und Nacherzählungen geschrieben wurden, werden die Schüler/innen heute auf eine viel breitere Palette von Textsorten vorbereitet, wie sie auch dem realen Leben entspricht: Je nach Situation sollen Berichte, Formulare, SMS, Briefe, Plakate, einfache Gedichte, Gesuche, Fantasietexte, Bildergeschichten etc. verfasst werden. Dabei sollen auch die neuen Medien wie Computer oder Handy/Smartphone mit ihren Möglichkeiten (Textverarbeitung, E-Mail, SMS, Blogs, Chats) genutzt werden. Dies ist auch im herkunftssprachlichen Unterricht möglich und führt zu einer Palette spannender Schreibprojekte, wie es die Unterrichtsvorschläge im Praxisteil zeigen.

d) Angeleitetes («gelenktes») und freies («angeregtes») Schreiben

Im Sinne einer effektiven Förderung sollen schulische Schreibanlässe sich auf angeleitete (gelenkte) und freie (angeregte) Situationen verteilen.

Beim angeleiteten oder gelenkten Schreiben steht der Auf- und Ausbau sprachlicher Teilkompetenzen (z. B. Wortschatz, Satzanfänge, verschiedene syntaktische Muster, Textaufbau) im Vordergrund. Als jeweiligen Fokus erhalten die Schüler/innen mehr oder weniger detaillierte Vorgaben und Anleitungen, die sie umsetzen sollen. Eine besonders hoch didaktisierte Form ist das sog. Scaffolding (von engl. scaffold = Gerüst), bei dem sich die Schüler/innen eng an eine vorgegebene Struktur anlehnen, diese mit einem eigenen Inhalt variieren und dadurch ihre Textkompetenz um eine neue Facette erweitern (Bsp. Variation eines Briefs durch Wahl eines anderen Adressaten, «Parallelgeschichten», bei denen gegenüber der Vorlage z. B. eine Figur, der Ort oder ein Gegenstand ausgewechselt wird). Angesichts des Wertes dieses Vorgehens auch für die sprachschwächeren Schüler/innen im herkunftssprachlichen Unterricht gehen wir hierauf speziell in Kap. 4 d ein; vgl. auch diverse praktische Anregungen in Teil III.

Als freie oder angeregte Schreibanlässe werden solche bezeichnet, bei denen die Schüler/innen zu einem Thema oder Schreibprojekt angeregt werden (z. B. durch eine mündliche Einstimmung in ein Fantasiethema oder durch eine Vorbesprechung bei einem Sachtext), ohne sich aber eng an einem gegebenen Muster orientieren zu müssen. Klar kommunizierte Erwartungen und evtl. Kriterien hinsichtlich des erwarteten Textes gehören auch zu diesem Typus. Gänzlich freie Schreibanlässe ohne Einstimmung und Vorbereitung («ihr habt jetzt eine halbe Stunde, um etwas zu schreiben») überfordern viele Schüler/innen. Wichtig im Zusammenhang mit dem freien Schreiben ist, dass die Schüler/innen ermutigt werden, auch außerhalb der Schule in ihrer Sprache zu schreiben (Briefe, Tagebuch, Mails etc.).

e) Prozessorientierung und explizite Vermittlung von Schreibstrategien

Wenn sie nur an das verlangte Endprodukt denken, fühlen sich viele Schüler/innen durch Schreibaufgaben überfordert. Hilfreich ist es, sich stattdessen auf den Prozess zu fokussieren. Die Schüler/innen sollen Strategien lernen, wie sie einen Schreibprozess in überschaubare Schritte unterteilen und diese in einer sinnvollen Reihenfolge absolvieren können. Wichtige solche Schritte sind: Ideen finden/Vorwissen aktivieren – den Textaufbau planen und strukturieren – den Text verfassen – den Text überarbeiten – den Text präsentieren. Damit die Schüler/innen sich Schreibstrategien auch tatsächlich und nachhaltig aneignen, muss deren Vermittlung unbedingt explizit erfolgen. Die Techniken und Lernstrategien in Teil II dienen genau diesem Ziel. Zwei Arbeitsblätter fassen das Wichtigste zusammen und können an die Schüler/innen ab ca. 4. Klasse zur Unterstützung abgegeben werden.


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